Der Mensch ist ein Monster. Nicht immer, zugegeben: Manchmal kann er etwas wirklich Wunderbares schaffen. Aber genauso gut kann er zerstören, vernichten, auslöschen, morden, vergewaltigen und brandschatzen, und spätestens nach einem Besuch von Sarah Kanes Drama „Zerbombt“ hat man eine Vorstellung davon, was das bedeutet. Das Stück, das das Euro Theater Central aktuell inszeniert, ist alles andere als schön, keine entspannte Unterhaltung, kein Genuss, kein Spaß. Es ist furchtbar, ekelhaft, brutal. Und doch wichtig, gerade in der heutigen Zeit. „Wir müssen uns einfach gewissen gesellschaftlichen Fragen stellen, wenn wir verhindern wollen, dass die Welt so wird, wie das Stück sie zeigt“, erklärt ETC-Intendantin Ulrike Fischer. „Diese intensive, unmittelbare Art des Diskurses vermag nur das Theater einzuleiten.“
Da tanzt er wieder, hemmungslos, mit wild schwingenden Armen, ein bisschen unbeholfen, eigenwillig, eigenartig, so wie es einst viele Jugendliche auf Partys und in Diskotheken taten, vor allem jene, die nicht selbstbewusst genug waren, um ihre Bewegungen als cool zu verkaufen, aber so musikverrückt, dass sie sich einfach bewegen mussten. Ersteres trifft auf Gustav Peter Wöhler längst nicht mehr zu (wenn überhaupt), letzteres auf jeden Fall. Die Auftritte mit seiner Band sind die zweite Leidenschaft des feinsinnigen Schauspielers, der liebevoll Pop- und Rock-Klassiker neu interpretiert, ganz reduziert, ausschließlich akustisch und mit viel Gefühl. So wie jetzt im Pantheon, wo er dem Publikum einen wunderbaren Abend beschert.
Die Menge tobt. 10.000 Menschen, dicht an dicht, jubelnd, feiernd, rockend und die Musik genießend, die von der Bühne des KunstRasens schallt und die nicht so einfach zu beschreibend ist. Hier trifft der opulente Rock von Queen auf die Punk-Attitüde der Misfits, die Melancholie von Smiths-Sänger Morrissey und die Experimentierfreudigkeit von David Bowie – und das ist nur der innerste Kern von My Chemical Romance. Mit dieser eigenwilligen Mischung war die Band in den frühen 2000er Jahren zu einer der wichtigsten Formationen dieses frühen Jahrtausends aufgestiegen, hatte Kultstatus erreicht, vor allem in der Emo- und Gothic-Szene, die in der bleichen Erscheinung von Sänger Gerard Way mit seinen mal feuerroten und dann wieder tiefschwarzen Haaren und mit seiner Außenseiter-Attitüde eine Identifikationsfigur sahen.
Sie sind wirklich überall: Auf der Bühne, im Zuschauerraum und auf verstreuten Podesten im Saal des Pantheons tummeln sich die Figuren aus Helmut Kraussers „Eyjafjallajökull Tam Tam“, beständig die Positionen wechselnd und das Publikum so zu schweigenden Akteuren einer bitterbösen Satire machend, die in der Wartehalle eines Flughafens spielt und kein Entkommen bietet. Ein ungewöhnliches Konzept, und dann auch noch von einer Schülertheater-Truppe – so etwas erlebt man nicht alle Tage. Zugegeben, das Schultheaterfestival „Spotlights“ der Theatergemeinde Bonn hat schon häufiger Produktionen präsentiert, die über das normale Maß hinausgehen und von einer beeindruckenden Leidenschaft aller Mitwirkenden zeugen; doch nach drei Corona-Jahren ist eine Leistung wie die der Q1 des Anno-Gymnasiums Siegburg in besonderer Weise überzeugend.
Es ist ein ewiger Kreislauf: Flaggen werden zu Leichentüchern, werden wieder zu Flaggen und bedecken doch irgendwann erneut leblose Körper. Der thematische Ansatz der Produktion „AeReA“, erster Teil eines choreographischen Triptychons und zugleich Auftaktveranstaltung der zehnten Ausgabe des Bonner Tanzfestivals „Into The Fields“, besitzt durchaus Potenzial, spielt doch die Verbindung zwischen Nationalstolz und Krieg gerade mit Blick auf die USA, auf Russland und auf die Ukraine eine nicht unerhebliche Rolle. Insofern sind Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi ganz nah dran am Puls der Zeit. Doch das tänzerische Vokabular, mit dem die beiden Tänzer an den Erfolg ihres letzten Stückes „Harleking“ anknüpfen wollen, ist in diesem Fall leider zu beschränkt. Statt alle Facetten auszudiskutieren, ist bei „AeReA“ schnell alles gesagt. Was bleibt, ist Redundanz. Und das ist tödlich.
Wer ist Tommy Engel? Die Antwort scheint so leicht zu sein. Ehemaliger Frontmann der Bläck Fööss, seitdem solistisch unterwegs, eben einer der ganz Großen im Rheinland. Doch es gibt noch mehr zu sagen. Zum Beispiel zum Namen. „Ich ben keine Engel“, singt der 72-Jährige selbst, „ich heiße nur so.“ Tatsächlich ist der Sänger weit mehr, zum Beispiel eine gute Seele Kölns, die die Ideale der Domstadt hochhält und weiter trägt, die für Toleranz steht, für Lebenslust aber auch für eine klare Haltung gegen Nazis und andere Vertreter des rechten Spektrums. Im Pantheon hat er nun anlässlich seines 60-jährigen Bühnenjubiläums, das er wegen Corona mehrfach verschieben musste, all diese Facetten aufleuchten lassen – und bei aller Freude auch ernste Töne angeschlagen.
Von oben sieht die Welt so friedlich aus. Ein blaues Juwel in der Schwärze des Weltraums, ein winziger Fleck voller Leben, den es mit aller Macht zu schützen gilt. Was auch gelingen kann, wenn man nur fest genug daran glaubt. So wie Udo Lindenberg, der im Rahmen seiner „Udopium“-Tour wieder auf die Erde zurückkehrt, stilecht mit einer Landekapsel wie ein Botschafter aus dem All. In der ausverkauften Kölner Lanxess Arena hat der 76-Jährige bei gleich zwei Konzerten seine Vision einer friedlichen, bunten Welt geteilt, die heutzutage ferner denn je zu sein scheint und an der man dennoch festhalten muss. „Trotz allem Realismus dürfen wir die Utopien niemals aufgeben“, betont Lindenberg – und unterstreicht seine Botschaft mit einer eigenwilligen, exzessiven, atemberaubenden Show, die keiner in der Halle so schnell vergessen wird.
Nur gemeinsam lässt sich etwas bewirken: Mit diesem Ansatz haben am vergangenen Mittwoch Künstlerinnen und Künstler aus Bonn und darüber hinaus ein Benefizkonzert für die Menschen in der Ukraine gegeben. Im Pantheon setzten sie mit Chansons, Jazz, Gospel und Funk ein Zeichen des Friedens. „Ich glaube nicht, dass der Mann im Kreml uns hört“, gestand Diseuse Evi Niessner, die ein paar Stücke aus ihrem Edith-Piaf-Programm präsentierte, „aber deshalb werden wir trotzdem nicht schweigen.“ Sondern vielmehr mit Kultur und Kunst eine eindeutige Antwort auf den Krieg geben. Und die konnte sich hören lassen.
Eigentlich hätte Patti Smith am Rhein auftreten sollen. Unter freiem Himmel wäre die Punk-Schamanin wie schon vor zehn Jahren bei ihrem KunstRasen-Auftritt sicherlich so richtig aufgeblüht – doch das hat der BUND zu verhindern gewusst. Die Umweltorganisation hatte per Eilantrag erfolgreich gegen die seit drei Jahren geplanten Konzerte auf der Insel Grafenwerth geklagt, da die Schutzbedürftigkeit der Natur nicht gewahrt sei, und so blieb Veranstalter Ernst-Ludwig Hartz nichts anderes übrig, als innerhalb weniger Tage mehrere Ersatzspielstätten zu finden. So spielte Patti Smith also kurzfristig im Kölner Palladium, in dem die rohe Energie der 75-Jährigen eine etwas düstere Färbung erhielt. Was nicht schlimm war, nur eben anders. Und nichtsdestotrotz fantastisch.
Der BUND hat sein Ziel erreicht: Mit mehreren zelotischen Klagen in letzter Sekunde hat die Naturschutz-Organisation die Konzerte auf der Insel Grafenwerth verhindert und Veranstalter Ernst-Ludwig Hartz zum Umplanen gezwungen. Dieser hat den Auftritt von Harfen-Legende Andreas Vollenweider kurzerhand ins Brückenforum verlegt – eine Notlösung, die vor allem bei jenen Gästen für Unmut sorgte, die ihre ursprünglich gebuchten Plätze wegen der verkürzten Reihen nicht mehr sicher hatten. Vollenweider dagegen nahm die neuen Bedingungen mit Humor: „Unsere Aufgabe ist es, das Publikum mit unserer Musik so zu verzaubern, dass sie alles um sich herum vergessen“, sagte er zu Beginn des Konzerts. Was ihm und seinen Freunden auf der Bühne denn auch mühelos gelingt.
Zwei Seelen schlagen, ach, in seiner Brust: Florian Paul, der mit seiner Kapelle der letzten Hoffnung und einer neuen Platte im Gepäck erneut im Pantheon zu Gast ist, ist zumindest aus künstlerischer Sicht zerrissen. Auf der einen Seite ist er ein Melancholiker, der die dunklen Farben des Lebens mitternachtsblau strahlen lässt, indem er Strophen zwischen Hoffen und Bangen mit bittersüß-rauchigen Noten versieht; und auf der anderen Seite ist er ein Liebender, einer, der das Sein all seinen Facetten auskosten will, der gegen Mutlosigkeit aufbegehrt und stattdessen mit verklärtem Blick auf den Sonnenaufgang wartet.
Eine Berührung, ein paar Worte, und schon schläft der Gast auf der Springmaus-Bühne. Dann der nächste. Und der nächste. Und der nächste. Mehr als 16 willige Zuschauer versetzt Timon Krause in eine Art Trance – nur zwei junge Männer widerstehen den Suggestionen des 27-jährigen Mentalisten, der in Bonn seine neue Show „Mind Games“ präsentiert. Erst einen Tag zuvor hat das Programm Premiere gefeiert, in dem Krause Menschen sowohl liest als auch anleitet. Ob er nun versteckte Quietscheenten sucht oder eben eine kleine Massenhypnose inszeniert, stets ist Krause Herr der Lage, während ihm das Publikum mit ungläubigen Augen folgt.
So soll also die Zukunft klingen: Synthpop-Sounds über groovenden Drums, oft vertrackt, gerne auch improvisiert – und immer wieder kollabierend, so als würde ein Schwarzes Loch sämtliche Strukturen zerreißen, bis die Vorstellungen von Harmonie, Rhythmus und Klang keine Gültigkeit mehr haben. Was bleibt, sind Geräusche, und selbst die halten an diesem seltsamen Ort in dieser seltsamen Zeit nicht lange vor. Zum Glück finden Liun and the Science Fiction Band, die jetzt im Rahmen des Jazzfests im Pantheon spielten, immer wieder den Weg zurück in das normale Universum, in dem Musik nicht nur ein Rauschen ist, sondern eine Ansammlung von Soundflächen und wummernden Bässen, von Melodien und Samples, von eigenwilligen Beats und flirrenden Motiven – und dem klaren, kühlen Gesang von Lucia Cadotsch.
Im weitesten Sinne ist Jazz ja offen für alles. Zum Glück, würde man doch bei dem Versuch, die Jazzfest-Konzerte von Andrea Motis und Oliver Leichts Formation [acht.] mit engen Definitionen zu beschreiben, schnell an seine Grenzen stoßen. Die Musik der beiden Bandleader, die am vergangenen Sonntag im Pantheon auftraten, verweigert sich klaren Einordnung, ist irgendwo dazwischen und mit allem vernetzt, baut Bigband-Sounds ebenso ein wie Orchestrales, Rock, Pop, Latin und zeitgenössische Klassik und verschränkt Sounds ebenso gerne wie Rhythmen und Harmonien. Bestechender als all diese Gemeinsamkeiten waren allerdings die Unterschiede – und die Energie im Saal.
Aufstrebende Künstlerinnen und Künstler treffen auf Veteranen und Legenden: Das ist eine der zentralen Ideen des Jazzfests Bonn. Nicht immer klappt das, das gesteht auch Impressario Peter Materna ein. Manchmal aber schon, so wie jetzt am vergangenen Samstagabend. Durchstarterin Alma Naidu traf im Pantheon auf Mike Stern und Bill Evans; mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Eine vielseitige Sängerin auf der einen Seite, zwei der weltbesten Jazzer auf der anderen, das kann doch nur gut werden. Oder besser. Oder beides.
Es gibt Musik, die trifft direkt ins Herz, berührt die Seele und verzaubert die Sinne, Musik, die unmittelbar wirkt und das gesamte Repertoire von Emotionen abdecken kann. Und dann gibt es Musik für den Kopf, die man sich erst erschließen muss, komplex, verschachtelt, eigenwillig, anstrengend. Bei dem Jazzfest-Konzert im LVR Landesmuseum waren am vergangenen Donnerstag beide Arten zu hören. Dort traf die Singer-Songwriter-Jazz-Virtuosin Olivia Trummer, die sich für ihr neues Album „For You“ die Unterstützung des Gitarren Kurt Rosenwinkel und des italienischen Trompeters Fabrizio Bosso sicherte, auf das expressionistisch-avantgardistische Matthieu Mazué Trio, das den internationalen Wettbewerb JazzBeet des Jazzfests Bonn für sich entschieden hatte. Eine kontrastreiche Kombination zum Nachdenken und Wohlfühlen.
Es gibt Fragen, bei denen Abdelkarim nicht weiß, ob er darüber lachen oder sich aufregen soll. „Woher kommst du?“, zum Beispiel, und zwar mit der unausgesprochenen Implikation, dass Bielefeld als Antwort nicht akzeptiert wird. Diese Art von Alltags-Rassismus, der noch nicht einmal böse gemeint ist und doch strukturelle Schwächen der Gesellschaft offenbart, ist seit Jahr und Tag das gängige Thema aller Ethno-Comedy – und eigentlich hätte man erwarten können, dass Abdelkarim inzwischen über diesen Punkt hinausgewachsen ist und neue Ansätze verfolgt. Im Haus der Springmaus, wo er sein aktuelles Programm „Wir beruhigen uns“ vorstellte, blieb der 40-Jährige mit marokkanischen Wurzeln aber lieber beim Bewährten und lässt so leider manche Chance ungenutzt.
Das Leben ist kein Zuckerschlecken, schon gar nicht als Mutter. Mal stresst das eine Kind, mal das andere, meistens alle zusammen; dazwischen noch der Haushalt, die ausgedehnte Verwandtschaft, der eigene Mann, vielleicht auch der eigene Job; und wenn dann der Blick auf die strahlenden Instagram-Mütter fällt, die all das mühelos unter einen Hut bekommen und so ganz nebenbei einen Tag lang mit ihren Sprösslingen basteln können, ohne das am Ende sämtliche Hautflächen, Kleidungsstücke und Wände mit einer Mischung aus wasserfesten Farben, Klebstoffen und Lebensmitteln verziert sind – tja, dann kann frau sich schon mal fragen, ob sich die Welt nicht gegen sie verschworen hat.
Kassia war allem Anschein nach schon eine bemerkenswerte, starke und selbstbewusste Frau. Die Dichterin, Komponistin und byzantinische Äbtissin lebte im 9. Jahrhundert in Konstantinopel und kann heutzutage als eine Art ur-feministisches Vorbild gedeutet werden, nicht zuletzt weil sie mit der Aussage des damals herrschenden Kaisers Theophilos, dass alles Schlechte von der Frau komme, nicht einverstanden war und diesem bei einer Brautwerbung eine entsprechende Replik gab. Jetzt haben sich das Kainkollektiv und das von Burak Özdemir geleitete Barockorchester Musica Sequenza dieser Geschichte angenommen und sie als performative Oper neu erzählt. Jetzt war die Produktion zu Gast im Theater im Ballsaal.
Es ist Happy Hour in der „WunderBar“. Jetzt darf getrunken und gefeiert werden, was das Zeug hält, zumindest noch dieses eine Mal. Immerhin sollen bereits am nächsten Tag die Bagger rollen, weil irgendein asiatischer Großinvestor kurzerhand das ganze Viertel aufgekauft hat und etwas Neues bauen will. Was auch immer. Auf jeden Fall keine Kneipe. Schon gar nicht so eine wie die „WunderBar“, die das Zuhause von Exzentrikern und Chaoten, Alt-Hippies und sonstigen schrägen Gestalten ist. Also ist jetzt die letzte Schicht, natürlich mit den üblichen Verdächtigen, unter anderem den trinkfesten Getränkeboten, der scheinbar resoluten und doch sehr poetischen Trapez-Künstlerin und der skurrilen Französin Ava, die sich selbst über alle Maßen schätzt und dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert. Ein eigenwilliges und vor allem einzigartiges Ensemble, das mit ihrer „WunderBar“ jetzt die Bühne des Bonner GOP übernommen hat.
Drei Jahre, und schon ist alles anders. Seit dem letzten Bonn-Konzert von Wille and the Bandits im Jahr 2019 hat sich Sänger und Gitarrist Wille Edwards eine komplett neue Band zusammensuchen müssen, und das mitten in der Pandemie. Das ist dem charismatischen Frontmann aus Cornwall jedoch erfreulicherweise gelungen. Erweitert zum Quartett machen die neuen Banditen da weiter, wo die alten aufgehört haben, ballern in der Harmonie mit Blues-, Rock- und Folk-Munition und treffen dabei fast immer ins Schwarze.
Genie und Wahnsinn liegen ja bekanntlich eng beieinander. Ist das ein Klischee? Vielleicht. Aber nach einem Abend mit Stimmkünstlerin Maria João und Tastenmagier Tigran Hamasyan ist es schwer, in dieser Aussage nicht zumindest einen Funken Wahrheit zu erkennen. Was diese beiden Ausnahmemusiker mit ihren Trios im Rahmen des Jazzfests im Post Tower präsentiert haben, ist ebenso brillant wie verrückt, radikal eigenwillig und in mehr als einer Hinsicht irre. João und Hamasyan bewegen sich in ihren eigenen Sphären, von der Musik berauscht – und doch nicht so weit entrückt, dass sie sämtliche Regeln und Muster über Bord geworfen haben. Aus diesem Spannungsfeld zwischen bewusstem Erfindungsreichtum und losgelöster Ekstase entstehen Klänge, die verblüffen und überraschen, begeistern und euphorisieren. Zumindest wenn man dieser Art des Jazz gegenüber offen ist.
Nur wenige Chansonniers werden in Frankreich so sehr geschätzt wie Georges Brassens. Für manche war er DER Chansonnier schlechthin, der Dichter einer ganzen Nachkriegs-Nation. „La mort du poète“, titelte die Tageszeitung „France Soir“ am Tag seines Todes – mehr brauchte es 1981 nicht, um jeden Franzosen wissen zu lassen, wer da gerade von ihnen gegangen ist. Er, der Libertin und Literat, der mühelos das Filigranen mit dem Verruchten zu vermischen verstand, der aufmüpfige Intellektuelle und der selbsternannte Pornograf der Musik, teilweise mit dem einen Bein im Bordell und dem anderen in der Bibliothek. Jetzt hat Jean Faure, seit mehr als 50 Jahren Bonns Lieblings-Chansonnier, Brassens ein komplettes Programm gewidmet und es zusammen mit seinem Orchester im nahezu voll besetzten Pantheon präsentiert.
Es war einmal ein Nashorn, das lebte in einem Zoo. Ein ungewöhnlicher Zoo war es, denn er stand in einem Gefängnis, einem schrecklichen Ort, der Hölle auf Erden. Außer für die Tiere, zumindest so lange sie nicht zu genau hinschauten und sich gut stellten mit den Gestiefelten, die als Aufseher der Gestreiften an diesem Ort das sagen hatten. Doch eines Tages war das Nashorn tot. Warum? Weiß keiner so wirklich. Interessiert auch niemanden. Bis auf den kleinen Bären, der einige Zeit später in diese Welt der Gitter und der Zäune kommt, eingefangen von Jägern in der sibirischen Tundra und seiner Familie brutal entrissen. Der Bär will wissen, was passiert ist, und er bemerkt auch, was passiert außerhalb der Gehege, wie sie gequält und gepeinigt werden, die ausgemergelten Gestreiften, die den Gestiefelten weniger gelten als die Tiere. Der Bär schaut hin – und er beschließt, etwas zu unternehmen, selbst wenn es ihn das Leben kostet, weil er den Wert des Lebens noch kennt. Und weil er zumindest ahnt, „was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“. Jetzt hat das Theater Bonn diese eindringliche, bedrückende Fabel von Jens Raschke auf der Werkstattbühne inszeniert.
Wer nach Corona an einen Aufschwung glaubt, ist entweder extrem optimistisch, Firmenboss oder Aktienbesitzer und auf jeden Fall noch nie Gast bei René Sydow. Der 42-Jährige gehört zu jenen immer rarer werdenden Kabarettisten, die jenseits der üblichen Politikerschelte eine eindringliche Systemkritik üben – und die fällt in seinem aktuellen Programm „Heimsuchung“, mit dem er jetzt im Pantheon zu Gast war, nicht gerade positiv aus. Pflegenotstand und Mietwahnsinn, jugendliche Spießer und abgeschobene Senioren, eine wachsende Vereinsamung und eine allgemein akzeptierte Onlinesucht: Der Sozialstaat, so konstatiert Sydow, ist schon längst ein Mythos geworden, und zwar einer, den wir immer noch für Realität halten. Was schon fast ein Witz sein könnte, wenn er nicht so traurig wäre.
Man sollte einen Musiker nicht nach seinem Äußeren beurteilen. Miller Anderson zum Beispiel, der ehemalige Sänger und Gitarrist der Keef Hartley Band und mit 77 Jahren ein echtes Urgestein der britischen Bluesrock-Szene, hat in den vergangenen Jahren ein bisschen abgebaut und spielt nur noch im Sitzen, eine Kappe auf den schneeweißen Haaren tief ins Gesicht gezogen – doch wenn er loslegt, gibt es keinen Zweifel daran, dass der Schotte noch immer genug Kraft hat, um richtig zu rocken. In der Harmonie hat er sich auf jeden Fall bravourös geschlagen, auch – aber nicht nur – dank einer starken Band im Rücken.
Puccinis „Turandot“ mit einer Cellistin und einem Bariton? Klingt nach einer scheinbar unmöglichen Aufgabe, ist für Carrie Puddleton (Rebecca Carrington) und Laurence Longstaff (Colin Brown) aber lediglich die Aufwärmphase. Die beiden britischen Musiker, die als einzige Mitglieder der fiktiven Royal Imperial Victorian Opera Company, die es auf den Kontinent geschafft haben – alle anderen stecken im Zoll fest. Brexit eben. Und Bürokratie. Eine überaus problematische Mischung.
Also mal ganz ehrlich: Kaffee im Schuh beziehungsweise in den Gummistiefeln, wer könnte das nicht mögen? Kaffee to go, mit Wärmefunktion, das ist doch genial. Ein „Weltgerät“, ja sicher. Marke Eigenbau. Von Dittsche höchstpersönlich entworfen. Und der hat ja Ahnung. Von allem, vor allem aber vom Basteln. Der Heimwerkerkönig unter den Gescheiterten, der Tim Taylor von Hamburg-Poppenbüttel. Der mit dem Bademantel und den Schumiletten. Ja, genau der. Dittsche eben. Jetzt war die schräge Kunstfigur zu Gast im Bonner Brückenforum und hat aus seinem Leben erzählt. Und von seinen Erfindungen.
Inspiration kann aus vielem entstehen. Selbst aus Fernsehwerbung für erotische Kontakte. Dem britischen Singer-Songwriter Ezio Lunedei war vor allem das Bild einer grauhaarigen Domina im Gedächtnis geblieben, die ihn des Nachts in verschiedenen deutschen Hotelzimmern immer wieder aufforderte, zum Telefonhörer zu greifen. „Ruf mich an“, diese Worte haben sich ihm förmlich eingebrannt – und so tat er, was jeder Künstler tut, wenn ihn eine Szene nicht mehr loslässt, schrieb ein Lied (in diesem Fall einen Country-Song) und hoffte auf das Beste. Was bei Ezio vieles ist, aber auf keinen Fall langweilig. Zusammen mit seinem Freund und Bühnenkollegen Mark „Booga“ Fowell hat er nun in der Harmonie gezeigt, dass Poesie und Porno mitunter gar nicht so weit voneinander entfernt sind.
Bernhard Schüler liebt Anekdoten und Geschichten. Der Jazz-Pianist und Gründer von Triosence hat immer etwas zu erzählen, ob nun in seinen Moderationen oder auf den Tasten seines Klaviers: Mal geht es bei ihm um den wahren Namen des legendären Chick Corea, mal um die Vorstellung, ganz entspannt über einen amerikanischen Highway zu fahren, und manchmal um rockende Eichhörnchen. Zutrauliche kleine Nager, die Schüler und seine Lebensgefährtin an ihrer gepachteten alten Mühle irgendwo im Nirgendwo füttern und die sich inzwischen durch nichts und niemanden vertreiben lassen, auch nicht durch das pulsierende, treibende Spiel von Drummer Tobias Schulte.
An und für sich ist das Thema klar umrissen: In seinem neuen Programm will Konrad Beikircher – so betont er – die vergangenen zwei Jahre Revue passieren lassen, die Pandemie im weltgeschichtlichen Zusammenhang einordnen und sich über Seuchen im Allgemeinen und Corona im Besonderen auslassen. Soweit der Plan. Doch wer Beikircher kennt, der weiß, dass es meistens anders kommt. So auch im gut gefüllten Pantheon, dem zweiten Wohnzimmer des 76-Jährigen. Zwar blickt Beikircher durchaus zurück, streift das Virus aber nur am Rande; immerhin gibt es viel zu erzählen und noch mehr zu verzällen (ja, das ist ein Unterschied), vor allem über die beiden katholischen Hardliner und Problem-Kardinäle Meißner und Woelki, über die sich Beikircher immer wieder aufs Neue aufregen kann. „Wenn et nur Corona gewesen wäre“, sagt er und schüttelt mit dem Kopf. Die Pandemie, die kann man zumindest ansatzweise verstehen. Die Kirche nicht.
Roland Jankowsky scheint ein Faible für skurrile Gestalten zu haben. Die bekannteste Rolle des TV-Schauspielers, die des vornamenlosen Kommissars Overbeck in den „Wilsberg“-Krimis, ist schließlich vieles, aber sicher nicht gewöhnlich, und auch die Geschichten, die der 54-Jährige in Sammelbänden herausgibt und auf seinen Lesereisen vorträgt, sind ziemlich schräg, mitunter gar völlig absurd. Und ziemlich komisch, vor allem da Jankowsky als Sprecher brillant ist: Mühelos meistert er die Klaviatur seiner Stimme, keift und grummelt, flucht und faucht, wechselt sekundenschnell zwischen Dialekten und Emotionen und hat so viel Freude daran, dass sich kein Zuhörer dem entziehen kann. So wie jetzt im gut gefüllten Pantheon, wo Jankowsky unter anderem aus dem Leben einer kölschen Meldeamts-Angestellten erzählte – und die Geheimnisse der Weißwurst-Mafia offenbarte.
Bei dieser Musik muss man einfach tanzen. Entspannt groovend schallt sie durch das Pantheon, pulsierend und belebend, aber nie hetzend oder treibend. Insofern ist schon jetzt eine kleine Korrektur von Nöten: Man muss nicht tanzen, man darf – und viele Gäste des „Over the Border“-Festivals, das an diesem Abend mit einem Konzert von Miroca Paris einen offiziellen und zugleich vorläufigen Abschluss findet, nehmen diese Gelegenheit nur zu gerne wahr. Zwischen Stühlen und Tischen wiegen sich Leiber im Takt kapverdischer Klänge, ein Bild unbändiger Lebensfreude, gezeichnet von einem Meister kapverdischer Klänge, der nach Perfektion strebt und doch Gelassenheit ausstrahlt. Das kommt bekannt vor, immerhin hat Miroca Paris schon bei der Eröffnung des Festivals mit den Local Ambassadors geglänzt und die ihm unbekannte Band bei seinen Liedern souverän geführt. Jetzt, mit seinen eigenen Leuten, legt er die Messlatte mühelos höher. Und begeistert erneut.
Am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Als ob das etwas helfen würde. Vielleicht gewährt der Egoismus einem selbst noch ein paar Wochen mehr, noch ein paar Wochen der Existenz in einer gefrorenen, gefühlskalten Welt – doch zu welchem Preis? Diese Frage beantwortet Kristo Šagors Dystopie „Bevor wir gehen“, die das Theater Rampös am vergangenen Wochenende in der Brotfabrik aufgeführt hat, ebenso eindringlich wie erschreckend. Inmitten einer unerwartet angebrochenen Eiszeit, in der jeder Schritt im Freien den Tod bringen kann („The Day After Tomorrow“ lässt grüßen), klammern sich zehn Menschen in einem Kaufhaus mit allen Mitteln an das Leben und sind dabei bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Doch letztlich ist jede Hoffnung vergebens. Und die Menschlichkeit Geschichte.
Bock? Natürlich hat die Menge Bock. Mit dem Wegfall nahezu aller Corona-Regeln darf und will man schließlich wieder richtig rocken, dicht an dicht, gemeinsam johlend und jubelnd und springend und tanzend, so wie früher, vor der Pandemie. Und auch wenn beim Konzert der New Roses in der Harmonie auf Wunsch der Band weiterhin die 3G-Regel gilt, sieht das doch an diesem Abend keiner als Einschränkung, sondern eher als Selbstverständlichkeit – und als Absicherung, dass die rund 300 Besucher, mal mit und mal ohne Maske, ihre „Rock 'n' Roll-Party“ mit dem Wiesbadener Quartett überhaupt entspannt und ausgelassen feiern können. Darauf haben einige Menschen im Saal mehr als zwei Jahre lang hingefiebert, inklusive der Roses um Frontmann Tommy Rough, die ebenfalls Bock haben, viel Bock auf Rock. Also lassen sie es krachen, und zwar mit Nachdruck. Und die Fans? Sind restlos begeistert.
Eigentlich kann Max Prosa den Vergleich mit Bob Dylan nicht mehr hören. Immer wieder wird der 32-Jährige mit dem großen Singer-Songwriter verglichen und dadurch sogleich in eine Schublade gepackt. Das nervt, verständlicherweise. Andererseits lässt sich die Ähnlichkeit zwischen ihm und Dylan einfach nicht leugnen: Beide sind begnadete Poeten, beide begnügen sich mit einem überschaubaren Gitarren- und Mundharmonikaspiel, beide können keine Töne treffen – und beide verstehen es doch wie nur wenige andere Künstler, die Menschen mit ihrer Musik zu berühren. Jetzt ist Max Prosa erneut im Pantheon zu Gast, um mit seinen manchmal traumtänzerischen Hoffnungen den Abgründen einer dunkelgrauen Welt zu begegnen und sie ein bisschen schöner zu machen. Oder sie zumindest schöner zu schreiben.