René Sydow: Die Gefahr der Einsamkeit

Wer nach Corona an einen Aufschwung glaubt, ist entweder extrem optimistisch, Firmenboss oder Aktienbesitzer und auf jeden Fall noch nie Gast bei René Sydow. Der 42-Jährige gehört zu jenen immer rarer werdenden Kabarettisten, die jenseits der üblichen Politikerschelte eine eindringliche Systemkritik üben – und die fällt in seinem aktuellen Programm „Heimsuchung“, mit dem er jetzt im Pantheon zu Gast war, nicht gerade positiv aus. Pflegenotstand und Mietwahnsinn, jugendliche Spießer und abgeschobene Senioren, eine wachsende Vereinsamung und eine allgemein akzeptierte Onlinesucht: Der Sozialstaat, so konstatiert Sydow, ist schon längst ein Mythos geworden, und zwar einer, den wir immer noch für Realität halten. Was schon fast ein Witz sein könnte, wenn er nicht so traurig wäre.

Entspannung kann und will Sydow an diesem Abend in Beuel nicht bieten. Ja, gut, ab und zu streut er mal ein paar Witze ein, und so ganz kann auch er nicht von den Politikern lassen, die er mit bissigen Vergleichen karikiert und sehr zur Freude des Publikums dekonstruiert; doch eigentlich will der wortgewaltige Zyniker mehr. Er will aufrütteln, will etwas bewegen, obwohl er längst eingesehen hat, dass Kabarett dies gar nicht vermag, zumindest nicht im großen Stil. „Ich schreibe immer wieder über die selben Themen“, sagt er ernüchtert. Und es wird nicht besser. Die Wegrationalisierung von Pflegekräften und sogar ganzen Krankenhäusern sei während der Pandemie nicht ins Stocken geraten, sondern fröhlich weitergeführt worden, und bald komme wahrscheinlich das Outsourcing des gesamten Bereichs, vielleicht nach Thailand, dann wären die Alten eben weg. Bleiben noch die modernen Pandemien: Nicht Corona, sagt Sydow, so schlimm auch jeder einzelnen Todesfall war. Vielmehr geht es um die neuen Volkskrankheiten, um Übergewicht, Kurzsichtigkeit und Einsamkeit. Hat alles mit dem Internet zu tun, davon ist Sydow überzeugt, mit dem ständigen Sitzen vor dem Computer. „Viel zu wenig Weite, viel zu wenig Tageslicht, das macht kaputt“, sagt er. Und eben einsam. In Japan gibt es für den Tod jener, die alleine sterben und deren Leichen erst nach Wochen oder gar Monaten entdeckt werden, inzwischen ein eigenes Wort. Kodokushi. In Deutschland gibt es das Phänomen auch. Es wird nur nicht benannt. Und findet somit nicht statt.

Nach und nach zerschmettert Sydow alle Illusionen von Solidarität in unserem Lande. Mitunter pauschalisiert er dabei mehr, als er sollte, tut etwa alle Jugendlichen gleichermaßen als Jünger des Konsums ab, die nur aufs Handy gucken und nicht länger auf die Menschen. Dann wieder legt er gnadenlos offen, dass Leistung sich noch nie gelohnt hat, zumindest nicht für jene, die dieses Land am Laufen halten, die Müllmänner und Supermarkt-Mitarbeiter, die sich nach der Decke strecken müssen, während sie im Fernsehen 22 Millionären dabei zusehen, wie sie anderthalb Stunden lang einem Ball hinterherlaufen. Und Diversität? Ist für Sydow eh nur „ein politisch motivierter Euphemismus“. Alle sollen unterschiedlich aussehen, aber bitte das Gleiche denken. Und zwar am besten an sich, dann ist wenigstens an jeden gedacht. Eine schöne neue Welt zeichnet Sydow auf diese Weise nicht, sondern eine sehr egoistische, in der Ayn Rand längst Immanuel Kant ersetzt hat. Optimistisch ist das wahrlich nicht. Realistisch aber leider schon.

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