Flirrende Klänge und tanzende Lichter, leise pulsierende Club-Sounds und hypnotische Synthi-Flächen: Der KunstRasen 2024 ist am vergangenen Freitag mit einem Auftritt von Ambient-Pop-Künstler Christopher von Deylen alias Schiller zu Ende gegangen. Es war ein Abend zum Entspannen, ein ruhiger, unaufdringlicher Ausklang einer abwechslungsreichen Saison, die immerhin rund 90.000 Besucherinnen und Besucher in die Gronau lockte. Daran hatte Schiller leider nur wenig Anteil, zumindest was die reinen Zahlen angeht: Gerade einmal 1700 Gäste sind laut offizieller Angabe zu dem Konzert von Deylens und seiner beiden Trio-Kollegen Martin Fischer (Drums) und Günter Haas (Gitarre) gekommen. Eigentlich schade, denn auch wenn die verschiedenen Stücke mehr oder weniger ineinanderflossen und nur von Hardcore-Fans auseinandergehalten oder gar benannt werden konnten, sorgten die Drei doch für einige schöne Momente.
Im Grunde haben wir es schon immer gewusst: Gossip sind in Wirklichkeit Korn. Oder umgekehrt? Ist auch egal. Der Beweis ist beim Auftritt von Sängerin Beth Ditto und ihren Mitstreitenden auf dem Bonner KunstRasen auf jeden Fall unübersehbar. Mitten auf der Base-Drum prangt noch immer der Schriftzug der legendären Nu-Metal-Band, und so etwas ist in der Regel eines der wichtigsten Identifikationsmerkmale im Musikgeschäft. Damit spielt man nicht. Gossip aber schon, vor allem wenn sich so eine Gelegenheit bietet wie in der Gronau: Offenbar hat Drummer Ray Luzier besagte Trommel nach dem Konzert am Montag einfach stehen gelassen, und Gossip haben natürlich zugegriffen. So viel Spaß muss sein, das ist in der Persönlichkeit von Ditto schon routinemäßig angelegt. Gleiches gilt für ihre Soul-Stimme, ihr Charisma – und ihre Streitbarkeit.
Wenn Korn spielen, herrscht Krieg. Krieg gegen Harmonie und Wohlklang, aber auch gegen die Lebenslügen des Alltags, gegen das Verschweigen von Wahrheiten und gegen die Unterdrückung von Emotionen. Die rohe, ungezähmte Energie der Nu-Metal-Ikonen ist Klang gewordene Wut, ein Ausdruck von Aufbegehren im Stil des Punks, gepaart mit dem Puls des Funk und der Härte des Metal, und zugleich eine anderthalbstündige Katharsis für das Publikum. Kein Wunder, dass Korn Wegbereiter für Bands wie Slipknot oder Limp Bizkit waren, mit ihrer Rotzigkeit, ihrem Zorn und einem gewissen Nihilismus, der sich vor 30 Jahren das erste Mal Bahn brach. Damals erschien das Debütalbum „Korn“. Aufgrund dieses Jubiläums ist das Quintett auf um Frontmann Jonathan Davis auf Tour, hat bei einem von insgesamt nur drei Deutschland-Terminen dem ausverkauften Bonner KunstRasen Station gemacht – und brachte das Gelände in Sachen Lautstärke an seine Grenzen.
Es ist fast wie eine kleine Zeitreise: 20 Jahre nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Verschwende deine Zeit“ sind Silbermond auf den KunstRasen gekommen, und für manche der rund 5500 Besucherinnen und Besucher ist es wieder genau so wie damals, in den frühen 2000ern, als der Deutschrock geradezu explodierte und die Songs von Stefanie Kloß und Co im Radio in Dauerschleife liefen. „Symphonie“, „Durch die Nacht“ oder auch „Das Beste“ gehörten zum Soundtrack der letzten Millenials, weichgezeichnete Pop-Balladen und gefällige Rock-Nummern zwischen Weltschmerz und idealisierter Liebe. Mit ihrer „Auf Auf“-Tour wollen Silbermond nun an alte Erfolge anknüpfen – und erweisen sich 17 Jahre nach ihrem letzten Bonn-Konzert zumindest vorübergehend als erfreulich druckvoll.
Achtung, hier bin ich: Wer auf dem KunstRasen tatsächlich noch nicht wissen sollte, wer an diesem Abend auf der Bühne steht, der muss nur bei den ersten Songs etwas genauer hinhören. Schließlich liebt es Jason Derulo, sich selbst zu besingen und sich entsprechend zu inszenieren. Auf den Plakaten zu seiner „Nu King World Tour“ (der Titel soll sich laut Derulo allerdings auf seinen zweijährigen Sohn Jason King beziehen) posiert er noch mit goldener Dornenkrone – dagegen ist das Leder-Outfit, mit dem sich der 34-Jährige in der Gronau präsentiert, geradezu verhalten. Dafür gibt es Feuerfontänen, Lichtexplosionen und etliche laszive Tanzeinlagen, vereint in einer perfekt durchchoreographierten Show, die das Publikum von der ersten Sekunde an mitreißt. Und dennoch Fragen aufwirft.
Aus irgendeinem Grund scheinen singende Surfer ein überaus erfolgreicher Stereotyp zu sein. Die Vorstellung, dass abends, nach einem Tag auf den Wellen, ein Sonnyboy am Strand zur Gitarre greift und Lagerfeuerlieder spielt, spricht offenbar viele Menschen an. Naturverbundenheit, Freiheit und gute Laune sind eben eine gute Kombination. Das hat schon Jack Johnson mit seinen verspielten Songs wie „Upside Down“ bewiesen, oder auch der im Vergleich etwas kantigere Ziggy Alberts. Letzterer war am vergangenen Donnerstag zu Gast beim Tanzbrunnen – und verzauberte mehr als 3000 Besucherinnen und Besucher mit Songs, die vom Meer erzählen.
Es soll Menschen geben, die Keane unter dem Stichwort „One-Hit-Wonder“ abgespeichert haben. Moment, Keane? War das nicht die Band mit der Weltschmerz-Hymne, wie hieß die noch, ich komm gleich drauf, ähm, ach ja: „Somewhere Only We Know“. Die Nummer, die nach 20 Jahren wie Phönix aus der Asche wieder auferstanden ist, mit mehr als einer Milliarde Streams via Spotify, einer Dauerschleife auf TikTok. Das ist also Keane. Hatten die noch andere große Erfolge? Ja, ein paar, allen voran „Everybody’s Changing“, ebenso wie „Somewhere Only We Know“ ein Titel des einstigen Debüt-Albums „Hopes and Fears“. Darüber hinaus haben die Briten, die irgendwo zwischen Coldplay, A-ha und Travis eingeordnet werden könnten, vier weitere Alben produziert, und auch wenn keines den Erfolg ihres Erstlings einstellen konnte, sind doch einige spannende Nummern entstanden.
Ja, Ian Astbury kann es noch. Singen, natürlich. Oder spricht man vielleicht doch lieber von predigen? Immerhin ist Astbury nicht irgendwer. Der Hohepriester von The Cult weiß ganz genau, wie er Menschen in seinen Bann zieht, wie man sie hypnotisiert und verzaubert mit wuchtigem Rock, der angeblich irgendwo zwischen Prä-Gothic und Post-Punk verordnet ist und der doch in kein herkömmliches Raster fällt. Zum 40. Jubiläum spielt die Kultband nun im Carlswerk Viktoria und zeigt, dass sie noch immer ihre Magie zu weben vermag. Selbst an einem Ort, der streng genommen zu klein für sie ist.
Die ganze Bühne strahlt. Ein Meer aus Weiß ergießt sich ins Publikum, zusammen mit einer Flut pulsierender Töne, die eine der innovativsten Indie-Bands im deutschsprachigen Raum mit jeder Menge Pathos und absolut brillanter Dramaturgie in Richtung Menge feuert. Der Auftritt der österreichischen Band Bilderbuch, die schon seit Jahren konsequent Konventionen sprengt, ist ohne Zweifel einer der Höhepunkte des Green-Juice-Festivals 2024. Was schon etwas heißen will nach einigen überaus starken Programmpunkten bei fast perfekten Rahmenbedingungen. Sonnenschein pur, gute Stimmung, familiäre Atmosphäre und jede Menge zu entdecken – besser könnte das kleine Festival am Rand des Beueler Ortsteils Pützchen, das in diesem Jahr immerhin zum 15. Mal stattfindet, kaum starten, was angesichts mancher Wetterkapriolen der vergangenen Jahre keine Selbstverständlichkeit ist. Umso mehr genießt das Publikum, das längst nicht mehr nur aus der Region stammt, sondern auch aus Sachsen, Hamburg und dem Schwarzwald nach Bonn kommt, diesen herrlichen Sommertag mit überaus partytauglicher Musik – und auch der ein oder anderen gesellschaftskritischen Passage.
Möglichst bunt, so hat es Mika am liebsten. Der libanesisch-britische Sänger mit einem Faible für ständig wechselnde, oft farbenfrohe und mitunter glitzernde Kostüme liebt das Spiel mit der Selbstinszenierung, das mit seinen poppig-perlenden Songs einhergeht und ihn in den vergangenen 17 Jahren vor allem in Frankreich und Italien überaus populär gemacht hat. Kein Wunder, war er dort schließlich über Jahre hinweg als Juror für diverse Casting-Formate tätig, moderierte eine eigene Unterhaltungsshow und 2022 auch den Eurovision Song Contest in Turin. In Deutschland hat Mika hingegen nie so richtig Fuß fassen können. Zu seinem Konzert in Bonn waren auf jeden Fall nur knapp 2000 Fans zum KunstRasen gekommen, um mit dem 41-Jährigen im Rahmen der „Club Apocalypso Summer Nights“-Tour ein paar schöne Stunden zu verbringen. Und die konnte man auch bekommen. Sofern man beim musikalischen Anspruch ein paar Abstriche machte.
Wie genau kann man Jamie Cullum beschreiben? Als Jazz-Pianist? Das trifft durchaus auf den 45-Jährigen zu, ist aber eigentlich zu wenig. Denn Cullum kann und macht mehr. Er beherrscht Latin und Soul, Funk und Boogie, Pop und Rock, kennt jede dieser Schubladen – und hat großen Spaß daran, den jeweiligen Inhalt auszukippen und alles auf einen Haufen zu schieben, um sich dann mit Wonne aus dieser Melange zu bedienen. Ist schließlich alles Musik, und mehr braucht Cullum nicht, um für Stimmung zu sorgen. Und wie. Auf dem Bonner KunstRasen hat er sich nun zwei Stunden lang in eine Art Rausch gespielt.
Es gibt Werte, über die man nicht diskutieren müssen sollte. Freiheit zum Beispiel. Oder Liebe. Für Kettcar steht das außer Frage. Für manch andere leider nicht. Genau deshalb drehen sich die Lieder der Hamburger Band um diese Themen, um Menschlichkeit, Verständnis und Wertschätzung im wahrsten Sinne des Wortes. „Humanismus ist nicht verhandelbar“, betont Frontmann Marcus Wiebusch während des Auftritts der Hamburger, mit denen die insgesamt drei Open-Air-Konzerte 2024 auf dem Roncalliplatz eingeläutet werden – und rund 2000 Fans beziehen Position und stimmen zu. Manchmal muss man eben ein Zeichen setzen und auf Veränderungen hoffen. „Eine Revolution werden wir nicht anzetteln“, gesteht Wiebusch, „aber Musik hat die Kraft, Menschen zusammenzubringen, die das selbe fühlen, und das ist nicht Nichts.“
Eigentlich müsste auf dem KunstRasen an diesem Donnerstagabend ein Warnhinweis für Diabetiker stehen: Vorsicht, Zucker in der Luft. Doch das würde in die Irre führen, denn auch wenn Zucchero, der nach dem italienischen Wort für Zucker benannte Rock-Star aus der Romagna, den ein oder anderen extra-süßen Klammerblues a la „Senza una Donna“ im Gepäck hat, so lässt sich die Musik des 68-Jährigen längst nicht nur darauf reduzieren. Seit nunmehr 40 Jahren verknüpft er überschwenglich-expressive Emotionen mit bombastischer Instrumentierung einerseits und der Cantautore-Tradition seiner Heimat andererseits, erweitert um das Zwölftakter-Feeling, das er sich bei den Kollegen aus den USA abgeschaut hat und das gar wunderbar zu seiner markigen, kratzenden Stimme passt. Auf dem Bonner KunstRasen lässt er sich auf jeden Fall nicht lumpen und beschert dem Publikum zusammen mit seiner herausragenden Band einen unvergesslichen Abend.
Folk-Fans sind hart im Nehmen. Ein bisschen Regen kann sie nicht verscheuchen, ein bisschen mehr ebenso wenig. Ein Glück für das Folk!Picknick, das am vergangenen Samstag auf dem KunstRasen-Gelände stattfand und von einem heftigen Schauer samt kurzzeitiger offizieller Gewitter- und Sturmwarnung unterbrochen wurde. Das zahlenmäßig leider überschaubare Publikum hielt jedoch aus, machte das Beste aus der Situation und konnte nach einer Viertelstunde im Matsch tanzen. Und hervorragende Musik aus der lokalen und regionalen Szene genießen.
6500 Besucher des Bonner KunstRasens waren am vergangenen Freitag hin und her gerissen zwischen Kult und Sport: Die Ohren in Richtung Bühne gespitzt und die Augen auf die Smartphones gerichtet, versuchten die Fans von ZZ Top den Spagat zwischen deftigem Bluesrock und dem Viertelfinalspiel Deutschlands bei der Fußball-EM 2024. Keine leichte Aufgabe angesichts eines nervenaufreibenden Spiels auf der einen und einem technisch beeindruckenden Konzert auf der anderen Seite. Frontmann Billy Gibbons, Drummer Frank Beard und der ehemalige Gitarren-Techniker Elwood Francis, der den vor drei Jahren unerwartet verstorbenen Dusty Hill ersetzt hat, machten von der ersten Sekunde an Druck, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Mit „Got Me Under Pressure“ hämmerte das Trio gleich einen ihrer größten Hits raus, bei dem der unverwechselbare Sound von Gibbons und das knackige Spiel von Beard bei den Fans für Euphorie sorgte. Doch leider währte das Glück nicht allzu lange, wegen der Spanier natürlich – und wegen eines extrem kurzen Auftritts.
An Greta van Fleet scheiden sich die Geister. Die einen haben das Quartett aus Frankenmuth, Michigan mit dem Erscheinen ihres Debütalbums „Black Smoke Rising“ vor nunmehr sieben Jahren als
Epigonen von Led Zeppelin abgestempelt, die anderen ihren Retro-Sound bewundert. Steven Wilson, immerhin das Mastermind hinter Porcupine Tree und einer der spannendsten Vertreter melodischen
Progressive Rocks, hat sie 2019 in einem Interview für das Rock-Magazin „eclipsed“ als „armselige, drittklassige Led-Zeppelin-Imitation“ bezeichnet – ein ziemlicher Tiefschlag. Und zumindest
heutzutage meilenweit von der Wahrheit entfernt. Denn was die Gretas bei ihrem Auftritt vor rund 7000 Fans auf dem Bonner KunstRasen zeigen, ist eine exzellente, abwechslungsreiche und
vielschichtige Rock-Show einer Band, die selbstbewusst auf den Schultern von Riesen steht und zugleich dabei ist, ihren eigenen Weg zu beschreiten. Und der macht durchaus Lust auf mehr.