"Was das Nashorn sah...": Bedrückende Fabel

Es war einmal ein Nashorn, das lebte in einem Zoo. Ein ungewöhnlicher Zoo war es, denn er stand in einem Gefängnis, einem schrecklichen Ort, der Hölle auf Erden. Außer für die Tiere, zumindest so lange sie nicht zu genau hinschauten und sich gut stellten mit den Gestiefelten, die als Aufseher der Gestreiften an diesem Ort das sagen hatten. Doch eines Tages war das Nashorn tot. Warum? Weiß keiner so wirklich. Interessiert auch niemanden. Bis auf den kleinen Bären, der einige Zeit später in diese Welt der Gitter und der Zäune kommt, eingefangen von Jägern in der sibirischen Tundra und seiner Familie brutal entrissen. Der Bär will wissen, was passiert ist, und er bemerkt auch, was passiert außerhalb der Gehege, wie sie gequält und gepeinigt werden, die ausgemergelten Gestreiften, die den Gestiefelten weniger gelten als die Tiere. Der Bär schaut hin – und er beschließt, etwas zu unternehmen, selbst wenn es ihn das Leben kostet, weil er den Wert des Lebens noch kennt. Und weil er zumindest ahnt, „was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“. Jetzt hat das Theater Bonn diese eindringliche, bedrückende Fabel von Jens Raschke auf der Werkstattbühne inszeniert.

Nein, eine leichte Kost ist dieses Stück mit dem so unschuldig wirkenden Titel wahrlich nicht. Ganz im Gegenteil. Raschkes Text geht unter die Haut, lässt das Publikum mehr als einmal schlucken und schaudern angesichts der Bestialität, zu der Menschen fähig sind, und angesichts der Menschlichkeit, die der Autor den Tieren – im Guten wie im Bösen – verleiht. Da ist Papa Pavian, der nichts hören, nichts sehen und nichts sagen möchte und der jeden als Feind sieht, der seine selige Ignoranz trüben könnte; dann das Murmeltiermädchen, das auf der einen Seite Einfühlungsvermögen zeigt und auf der anderen nach Harmonie strebt, indem es die schlimmen Dinge während des Winterschlafs einfach vergisst; und dann natürlich der Bär, der als Einziger echtes Mitgefühl zeigt und erschaudert angesichts des Schornsteins, der aus dem Gefangenenlager herausragt wie ein eitriger Finger und der immer wieder gelbe Wolken und einen ekelerregenden Gestank nach verbranntem Fleisch ausstößt. Das vierköpfige Ensemble (Katharina Bill, Julia Hoffstaedter, Martin Schnippa und Marie-Christin Sommer) erweckt diese Tiere mit grellen Kostümen und kleinen Akzenten geschickt zum Leben und schafft es mühelos, die Balance zwischen Unschuld und Schrecken zu wahren, zwischen Bildern von tapsigen Bären und keifenden Affen, zwischen Posierlichkeit und Grausamkeit. Dieses feine Spiel, das trotz mancher skurriler Momente nie ins Alberne umschlägt und das Regisseurin Hannah Biedermann mit ihren Schauspielerinnen und Schauspielern so unglaublich sensibel in Szene setzt, verleiht dem Stück erst seine enorme Wirkmacht und macht es zu mehr als nur einem Kinder- und Jugendstück. „Was das Nashorn sah“, das sollten alle sehen, um nicht wie das Murmeltiermädchen zu enden. Vergessen ist keine Option. Auch wenn es manchmal der Geschichte von einem mutigen Bären bedarf, um sich zu erinnern, was Menschlichkeit bedeutet – eines Bären in seiner Bärenburg, in einem kleinen Zoo, inmitten der Hölle des Konzentrationslagers Buchenwald.

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