„Nora“: Kein Mitleid für die Titelfigur

Eigentlich ist Nora eine Gefangene in einem Puppenhaus. Eine Frau, die alles zu haben scheint und doch in einem goldenen Käfig lebt – aber in einem, den sie selbst mit errichtet hat und den sie sorgsam pflegt. Das gleichnamige Stück von Henrik Ibsen erzählt von ihrer Befreiung oder ihrem Niedergang, je nachdem, wie die jeweilige Inszenierung aufgebaut ist. Das Laien-Ensemble Dauertheatersendung hat für ihre Adaption des Stoffes in der Brotfabrik ersteres angekündigt, aber letzteres umgesetzt. Beides geht nicht auf. Denn vor allem die Hauptfigur bleibt trotz aller Bemühungen von Hauptdarstellerin Xenia Zoller leider nicht wirklich greifbar, soll Opfer ebenso wie Täterin sein und verharrt doch nur in dem Raum dazwischen.

Die Dauertheatersendung, die sich immer wieder an den großen Klassikern der Weltliteratur versucht, hat sich allerdings auch eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt. „Nora“ ist hinsichtlich der Charakterzeichnungen sicherlich eines der anspruchsvollsten Theaterstücke und selbst für professionelle Ensembles eine Herausforderung. Die Gratwanderung der Protagonistin zwischen Egozentrismus und Familiensinn, zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und dem nach einem Zuhause ohne Sorgen gilt es fein zu zeichnen, und auch Noras Mann Torvald sowie der Erpresser Nils Krogstad, der die Bilderbuchidylle bedroht, bedürfen eines differenzierten Spiels. In der Inszenierung der Dauertheatersendung (Regie: Tobias Jülich) gelingt dies nur skizzenhaft. Eduard Jäger wirkt als ebenso zwielichtiger wie verzweifelter Krogstad weitgehend steif und ungelenk, auch wenn er sich im Verlauf der Premiere steigert und sich bemüht, seiner Rolle die nötigen Schattierungen zu geben; Michael Lüttgen, seit fast zehn Jahren immer wieder in Hauptrollen der Dauertheatersendung zu sehen, gibt den Chauvinisten mit viel Charme, aber wenig Bedrohlichkeit; und Xenia Zoller kommt von der überdrehten kapriziösen Seite ihrer Figur einfach nicht los. Ihre Nora wirkt dadurch zu schrill, geradezu unsympathisch, so dass ihre Reflektionen über Selbstmord oder zumindest den Abschied von Mann und Kindern lediglich selbstsüchtig und nicht mitleiderregend wirken. Immerhin kann Conny Kramer als Kristine Linde gelegentlich ihr fein changierendes Spiel unter Beweis stellen, ebenso wie Raphael MacLaren-Thompson, der als todkranker, in Nora verliebter Doktor Rank an den wichtigsten Stellen genau den richtigen Ton trifft.

Natürlich stellt sich jetzt die Frage, mit welcher Erwartungshaltung man in diese Inszenierung geht, dargeboten von einem engagierten Hobby-Ensemble, das sich mit all seiner Kraft nach der Decke streckt und alles gibt, um Ibsen gerecht zu werden – und das immerhin ohne einen großen Faux-Pas, ohne absurde Lesarten und ohne die im Regietheater so beliebten Text-Zerstückelungs-Orgien. In dieser Hinsicht macht die Dauertheatersendung keine Experimente, bleibt möglichst nah am Text und modernisiert nur sehr vorsichtig. Doch ohne die emotionale Tiefe Noras, die hin- und hergerissen ist zwischen ihrem Wunsch nach Freiheit und dem nach Familie, fehlt dem Stück das, was es eigentlich auszeichnet. So bleibt die Aufführung in der Brotfabrik nett. Aber auch nicht mehr.

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