„Peer Gynt“: Kaiser, Lügner, Dichter, Mensch

Peer Gynt (Timo Kählert) ist ein Versager. Sagen zumindest seine Mutter (Birte Schrein), der Schmied (Wilhelm Eilers) und alle anderen in dem norwegischen Dorf, in dem die Titelfigur von Ibsens epochalem Versdrama lebt. Nichts will ihm so recht gelingen, immer wieder scheitert er und rettet sich mit und in Märchengeschichten, um sich selbst und den Menschen um ihn herum glauben zu machen, dass er zu mehr bestimmt ist. Kaiser könne er werden – und Kaiser wird er, wenn auch nicht so, wie er sich das einst erträumte. Denn der Weg von der Selbsttäuschung zur Selbsterkenntnis ist für Peer Gynt alles andere als gradlinig. Nun hat sich Simon Solberg, Hausregisseur des Theater Bonn, dieses Stoffes angenommen. Und ihn mit Effekten überhäuft, bis der Text kaum noch atmen kann.

Ausgangspunkt Solbergs ist eine vermeintlich soziologische Deutung der Geschehnisse, die den Eskapismus der Hauptfigur verklärt und den Träumer zum Heilsbringer umdeutet. „Wir brauchen heutzutage mehr denn je einen Peer Gynt, der uns ein utopisches Narrativ von der Zukunft vermittelt“, hat Solberg im Vorfeld der Premiere in einem Interview gesagt und sich auf eine Welt bezogen, in der nicht mehr nur Leistung und Vermögen zählt, sondern auch die Freiheit des Seins. Leider ist in der knapp zweistündigen Inszenierung davon so gut wie nichts zu sehen. Der überragende Timo Kählert spielt Peer Gynt explizit nicht als Utopisten, sondern als Getriebenen, der an der eigenen Existenz verzweifelt und mit seinen inneren Dämonen einen permanenten Kampf ausficht: Mit seiner Mutter, der er es nie recht machen kann; mit seinem Vater (Bernd Braun), der das gesamte Familienvermögen versoffen hat; mit seinem Freund Mads (Alois Reinhardt), der sich im Gegensatz zu Peer Gynt in das bäuerliche Leben einfügt und so all das erlangt, was diesem verwehrt bleibt; und mit dem Troll (ebenfalls Reinhardt), der den Egoismus predigt und jede Form von Verantwortung zu einer Horror-Vorstellung mutieren lässt. Ihnen allen versucht Peer Gynt zu entfliehen, erst in die Wälder, dann in die Welt, die ihn liebende Solveijg (Lydia Stäubli) zurücklassend, der er sich nicht als würdig erachtet. „Sie mit diesen Händen anzurühren, hieße alles Heilige zu schänden“, sagt er. Und versagt sich so selbst die Rettung.

Nein, ein utopisches Narrativ spinnt Peer Gynt an diesem Abend im Schauspielhaus Bad Godesberg definitiv nicht. Seine überbordende Phantasie erscheint vielmehr als Fluch, bringt sie ihn doch auf immer neue verrückte Ideen, mit denen er über kurz oder lang Schiffbruch erleidet. Auf dem Höhepunkt seines Wahns landet er gar im Irrenhaus, wo man ihm dann tatsächlich die einst erträumte Krone aufsetzt. Dagegen steht eine einzige Szene, in der Peer Gynt seine Gaben für etwas Gutes einsetzt: Jene paar Minuten, in denen seine Mutter im Sterben liegt und in der er sie zurück in glücklichere Zeiten führt, gehören zu den berührendsten Momenten der gesamten Inszenierung, auch dank der starken musikalischen Untermalung durch Philip Mancarella und Sue Schlotte.

Ansonsten bietet Solberg leider viel Altbekanntes: Wie in fast allen Stücken unter seiner Regie dominieren auch im „Peer Gynt“ Kostüme in Feinripp, hektische Bühnenumbauten, überbordende Lichteffekte und sich aneinander reibende Klangästhetiken. Der Text selbst, ohnehin schon ein seltsames Konvolut aus gereimter Morgenstern-Übersetzung und moderner Prosa, wird durch diese Effekthascherei immer wieder in den Hintergrund gedrängt und zur Nebensache reduziert,  anstatt auf seine Kraft zu vertrauen und auf die Schauspieler. Die wüssten nämlich, was zu tun wäre, wie sie immer dann beweisen, wenn sie einmal ungestört zu Wort kommen, anstatt mit Seidentüchern über die Bühne oder durch den so gerne versprühten Nebel gescheucht zu werden. Das Ringen mit den Selbstzweifeln, der wahnhafte Übermut und die selbst auferlegte Demütigung („du bist wahnsinnig, wenn du denkst, dass du für die Welt von Bedeutung wärst“), das ständige Verlieren und letztlich doch zumindest der Anschein eines Sieges über den eigenen Geist, all das können Ibsens Verse viel besser tragen als zehntausend Leuchtstoffröhren. Man müsste es nur zulassen.

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