„König Lear“: Die Herrschaft des Narren

Der Wahnsinn wütet im Reich des Königs Lear, in seinem Geist und in seinem Körper. Der alte Nörgler hat sich verabschiedet von seiner Herrschaft, hat sie an seine Töchter übertragen – zumindest an jene beiden, die ihm nach dem Munde reden und ihn zugleich heimlich zur Hölle wünschen – und ist nun zur Last geworden, ein tyrannischer Vater ohne Macht, der nur noch als Symbol der alten Ordnung dient und dessen Verstand erodiert, als er die Wahrheit über sich selbst erkennen muss. Nur der Narr bleibt ihm treu, während Lear durch ein von Intrigen und Bürgerkrieg zerrissenes Land taumelt, jener Narr, der nun mit dem letzten Funken Vernunft einen rasenden Irren führt. Aus dieser komplexen Shakespeare-Tragödie lässt sich angesichts der Fülle von Lesarten vieles machen, ein psychoanalytisches Drama etwa oder ein philosophisches. Das Theater Bonn hat sich nun dazu entschieden, es ausgerechnet in eine Groteske zu verwandeln.

Die Shakespeare-Könige und das Theater Bonn sind wahrlich keine gute Kombination. Sechs Jahre ist es inzwischen her, dass die damalige Haus-Regisseurin Alice Buddeberg sämtliche Königsdramen des Barden von Avon durch den Fleischwolf gedreht hat und für ihre mit Klamauk überfrachtete Inszenierung mitunter harsch kritisiert wurde – jetzt macht Luise Voigt im Schauspiel Bad Godesberg mit einem ähnlichen Ansatz weiter. Ihre Schauspieler sind allesamt anämische Zerrbilder der auftretenden Adeligen, die sich auf der weißen, nackten Bühne höchstens stolpernd, krabbelnd oder abnormal verdreht bewegen dürfen, während sie die komplexen Dialoge wie Fremdkörper herauswürgen. Noblesse oblige? Keinesfalls. Selbst Lear (Bernd Braun) besitzt keine Majestät, noch nicht einmal eine gebrochene. Die ist vielmehr ausgelagert in eine überdimensionale Figur im Zentrum des Geschehens, den politischen Körper des Regenten, der alle überragt und doch letztlich in sich zusammenfällt, weil ihn keiner mehr zu stützen bereit ist. Gleiches gilt für den Menschen Lear, dessen Versorgung den Töchtern Goneril (Sophie Basse) und Regan (Sandrine Zenner) schlichtweg zu anstrengend und zu kostspielig ist. Um ihn gefügig zu machen, erniedrigen sie ihn und nehmen ihm damit seine Königswürde, so dass ihm, dem vermeintlich ewigen Monarchen, nichts mehr bleibt als der Tanz mit dem Wahnsinn.

Der absurden Ästhetik der Inszenierung, die in ihren grellen Weißtönen und den elaborierten Kostümen einen deutlichen Kontrast zu der ebenfalls am Theater Bonn präsentierten Fassung von Schillers „Die Räuber“ bildet (einem thematisch vergleichbaren Stoff, der aber weitaus klarer, düsterer und vor allem mit mehr Kraft umgesetzt wird), fällt leider zentrale Elemente zum Opfer, trotz einer Aufführungsdauer von drei Stunden. Vor allem der Bastard Edmund (Christoph Gummert), Sohn des Grafen von Gloster und dank seines rigorosen Machiavellismus eigentlich eine der spannendsten Figuren des gesamten Shakespeare-Kanons, wird zur Randfigur degradiert, obwohl er als einziger aktiv nach der Macht greift, statt sie sich übereignen zu lassen. Ihm wird nichts geschenkt, er muss sich alles erarbeiten: Eiskalt wiegelt er seinen Vater gegen den treuen Sohn Edgar (Alois Reinhardt) auf, erweist sich ein ums andere Mal als Opportunist und verführt sowohl Goneril als auch Regan, um die Kontrolle zu erlangen. Doch nie darf er die Bühne beherrschen, ist in Bad Godesberg immer nur Mittel zum Zweck. Ähnlich ergeht es übrigens auch Cordelia (Lena Geyer), die dritte Tochter Lears, die ihm zu Beginn des Stücks die Wahrheit ins Gesicht sagt, dafür verbannt wird und letztlich mit einem französischen Heer zurückkehrt, nur um am Ende im Kerker von Edmund zu sterben. Die gesamte Tragik der Handlung ist somit tot, zunächst verlacht und schließlich ermordet vom infantilen Wahnsinn einer entfesselten Welt bar jeder Vernunft und Ordnung, die Regisseurin Voigt dem Publikum in jeder Szene ins Gesicht reibt. Das Ensemble hat angesichts dieser Konzeption keine Chance, um ihren Rollen Konturen zu verleihen – und so bleibt „König Lear“ letztlich unnötig blass, ist Wahnsinn ohne Methode. Und eine Narretei ohne Sinn.

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