„Over the Border“: Sozialkritik und Möbelsongs

Frühling, Party und Reggae gehören zwangsläufig zusammen. Ein erwartungsvoller Hauch von Sommer liegt dann in der Luft, gesungene Freiheitshymnen und Liebesschwüre – und ein Möbelsong. Zumindest bei Gentleman, der mit groovenden Rhythmen und coolen Vibes das Telekom Forum aufmischt. Im Rahmen des „Over the Border“-Festivals ist der 44-Jährige nach Bonn gekommen, um sich für Diversität auszusprechen, für Respekt und für Musik ohne Grenzen. Auch in sprachlicher und thematischer Hinsicht. Immerhin arbeitet der wohl erfolgreichste Reggae-Musiker der Bundesrepublik, der als einer der wenigen auch in Jamaika große Erfolge feiern kann, erstmals in seiner 25-jährigen Bühnengeschichte an einem deutschsprachigen Album. In Bonn stellt er nun die ersten Titel vor, die eben auch von Möbeln handeln. Oder von Staubsaugern.

Dabei funktioniert Reggae auch auf deutsch überraschend gut, ob sich die Lieder nun um Alltagsgegenstände drehen oder um essentielle Fragen. „Ich glaube an mehr“, singt Gentleman irgendwann. An Freiheit, an Gleichheit, an Brüderlichkeit. Das hat er schon immer: Stets hat Gentleman Stellung zu gesellschaftspolitischen Themen bezogen, hat sich eingemischt und sich gegen Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung positioniert. Titel wie „Dem Gone“, „Superior“ oder „No Pretty“ legen davon Zeugnis ab. Ob allerdings alle im Publikum diese Plädoyers verstehen, ist angesichts der ineinanderfließenden Stücke mitunter fraglich. Viele lassen sich einfach fallen, schwingen im Takt der Musik und scheinen an einem völlig anderen Ort, während Gentleman wie ein aufgescheuchter Mungo mit Hummeln im Hintern über die Bühne jagt und seine Sätze mit Schwung in die Menge pfeffert. Das muss eben zuhören. Und die Konsequenzen aus den Mahnungen ziehen, die Gentleman zwischen entspannte Gute-Laune-Songs streut. „Macht doch mal die Fresse auf“, ruft er in Richtung der schweigenden Mehrheit, die die AfD im Bundestag zu akzeptieren scheint. „Sonst mache ich nen Abgang.“ Und das will schließlich keiner.

Immerhin genießt es Gentleman, wieder in Deutschland zu sein. Drei Monate lang war er jetzt auf Hawaii, um an dem neuen Album zu arbeiten, in Bonn traf er erstmals wieder auf seinen Sohn. Ein berührender Moment. Doch auch ansonsten sucht Gentleman die Nähe zum Publikum, klettert immer wieder von der Bühne, um alte Bekannte in den Arm zu nehmen oder einfach nur die besondere Stimmung in dem leider nicht ausverkauften Saal zu spüren. „Menschen, die Haltung zeigen, müssen auch einen Shitstorm in Kauf nehmen“, sagt der Wahlkölner: „Bonn ist cooler als Düsseldorf.“ So einfach kann es manchmal sein.

Zuvor hatten bereits Banda Senderos für Stimmung gesorgt: Die Essener Dancehall-Formation, die sich mit fetten Beats, knackigen Bläser-Sätzen und Hip-Hop-Versen zu einer der aufregendsten Bands der Szene entwickelt hat, trumpfte ebenfalls mit einigen neuen Songs auf und brachte das Publikum mühelos auf 180. Sprachlich bunt, akustisch druckvoll – so konnte der Abend beginnen, den Gentleman nun mit Leichtigkeit, Lebensfreude und dem ein oder anderen kritischen Blick bis in die Nacht hinein verlängert. Top.


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