Ingolf Lück: Wahrheiten im Fleischwolf

Die Wahrheit ist alles, was zählt. Natürlich nicht irgendeine Wahrheit, das ist ja klar. Sondern einzig die von Marco (Ingolf Lück), dem Protagonisten des Monologs „Seite Eins“. Alles andere wäre langweilig, und langweilige Wahrheiten verkaufen nun einmal keine Zeitungen. Im Notfall müssen sie also aufgepeppt werden, ummantelt und mit einer ordentlichen Dosis Pepp versehen, um den Wünschen und Sehnsüchten der sensationsgeilen Leser gerecht zu werden und ihnen zu signalisieren, dass sie mit ihren Vorstellungen recht haben. Wenn dazu der ein oder andere Bestandteil der Story ein wenig an der Realität vorbeigehen muss, ist das doch auch egal. Zumindest Marco, dem versierten Boulevard-Journalisten und virtuosen Metzger der Fakten, der diese genüsslich durch den Fleischwolf dreht und sie in metaphorischen Kunstdarm presst. Bis ihm eine seiner Titelgeschichten um die Ohren fliegt.

Seit vier Jahren tourt Ingolf Lück mit „Seite Eins“ durch Deutschland, jetzt ist er mit dem Stück ins Pantheon gekommen. Die Mediensatire aus der Feder von Blogger Johannes Kram wirft ein bitterböses Schlaglicht auf jene Form des Journalismus, die die Lust am Voyeurismus bedient und Schicksale zu emotionsgeladenen Konsumgütern macht. Lück zerrt die hohe Kunst des Klatsch und Tratsch ins Rampenlicht – und seine Figur Marco ist ohnehin stolz auf das, was er alles vermag. „Unsere Wahrheit ist die Wahrheit von Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen“, ruft er. Man nenne die Dinge eben beim Namen, ohne Rücksicht auf Verluste oder moralisch-ethische Anforderungskataloge wie den Pressekodex. Sein neuestes Projekt: Die junge, aufstrebende Sängerin Lea, die eigentlich nur ihr Album bewerben will, soll Marco einen Einblick in ihr Privatleben gewähren. Vor allem an ihrem Freund ist er interessiert, der offenbar aus einer reichen Industriellenfamilie stammt. Da kann man was draus machen. Ein Drama, einen Skandal, vielleicht auch eine Tragödie. Doch was am Ende herauskommt, ist eine Farce, die durchaus an den „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius gemahnt: Eine zentrale Annahme stellt sich als falsch heraus, die Geschichte implodiert. Doch Marco sieht sich als Opfer, nicht als Täter – und versucht auf die ihm eigene Weise, seinen Job irgendwie zu retten.

Das extrovertierte Auftreten, das Autor Kram seiner Hauptfigur Marco in diesem wahrhaft brillanten Monolog auf den Leib geschrieben hat, passt hervorragend zu Dauerquassler Lück. Dieser liebt ohnehin seinen stakkatohaften Duktus, gepaart mit übertrieben gedehnten Silben und einem gekünstelten Tonfall, überaus anstrengend und vielleicht gerade deswegen perfekt geeignet für einen pathologischen Wortverdreher wie Marco. Wirklich stark wird Lück allerdings immer dann, wenn er etwas ruhiger wird, ernster, reflektierender, wenn er die Maske des schmierigen Widerlings zur Seite schiebt und die dahinter lauernde Fratze der unbequemen Wahrheit offenbart. Die lautet nämlich: Jeder will Geschichten wie die sehen, die Marco zu erzählen versucht. Das Stück ist der beste Beweis dafür. „Gehen Sie doch weg. Gehen Sie! Schauen Sie weg!“, fährt Marco die Zuschauer irgendwann an. „Aber das können Sie ja nicht! Sie möchten sehen, wie ich hier herum zittere.“ Und genau das ist Boulevard. Nur eben im Theater.

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