Eigentlich ist er eine Legende: Weltweit gilt Sherlock Holmes als der größte Detektiv der Kriminalliteratur, als Musterbeispiel für den Sieg des Verstandes über das Gefühl und als Großmeister der Logik. Kein Geheimnis war vor ihm sicher, kein Rätsel für ihn zu schwer und kein Komplott zu komplex. Er war alles, nur niemals Mittelmaß. Bis heute. Ausgerechnet „Das Sherlock Musical“ von Alan Wilkinson und Steve Nobles reduziert das Genie zu einer herumstolpernden Randfigur, die höchstens noch ein Schatten ihrer selbst ist. Im Pantheon hat die Produktion des Urania-Theaters um Bettina Montazem nun ihren ersten Auswärtstermin absolviert, nachdem sie im Kölner Stammhaus seit November fast durchgehend ausverkauft war. Warum auch immer. Denn trotz einiger durchaus hörenswerter Songs und einer stimmlich zum Teil sehr starken Cast fehlt dem Musical schlichtweg die Seele und der Geist. Und das rächt sich.
Dabei hat es das Ensemble zugegebenermaßen nicht leicht an diesem Abend. Watson-Darsteller Carlos Garcia Piedra musste kurzfristig absagen, so dass Bettina Montazem ohne jedwede Vorbereitungszeit
einspringt. Zudem kränkeln drei Darsteller – und dann sind da noch die massiven Probleme mit vier ausgeliehenen und permanent ausfallenden Headsets. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Truppe
die Show mit Offenheit und einem Augenzwinkern durchzieht und das Beste aus der Situation zu machen versucht. Respekt. Bei allem Verständnis für die unglückliche Situation kann das Engagement der
Schauspieler und Musiker allerdings nicht über die hanebüchene Story hinwegtäuschen, die direkt einer Telenovela entsprungen sein könnte und die dem Werk von Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle
nicht einmal ansatzweise gerecht wird.
Der sichtlich gealterte Holmes (Richard Bargel) hat nicht mehr viel von seinem ursprünglichen Gemüt bewahrt. Er ist mürrisch, launisch, laut, ein polternder und mitunter kindisch herumspringender
Greis. Als jedoch inmitten der Wirren des Ersten Weltkriegs ein französischer Flugzeug-Experte entführt wird, dessen Wissen kriegsentscheidend sein kann, wird der alte Schnüffler reaktiviert,
während die Frauen um ihn herum (Bethanie Barber als Watson-Tochter Marie, Kerstin Kallewegge als Haushälterin Mrs. Hudson und Lea Johanna Montazem als Isabel) in ihrem Drang nach
Gleichberechtigung an die Front streben. Und dann mischt sich auch noch der junge Peter (Simeon Long) ein, der sich in Marie verliebt hat, leider aber für die Deutschen arbeitet. Kann man so
machen – allerdings dominieren die Romanze der beiden jungen Leute und die eingeflochtene Frauenbewegung die Geschichte derart, dass Holmes und seine Ermittlungen so gut wie keine Rolle mehr
spielen. Ohnehin scheint das Konzept des Stückes zu sein, jedem mehr Raum zuzugestehen als der Titelfigur; sogar Mrs. Hudson darf sich in einem (immerhin exzellent dargebotenen) Solo ihrer Jugend
erinnern, auch wenn das der Handlung nicht im geringsten dient. Die „Art of Deduction“, die Holmes in einem der stärksten Lieder des Musicals zusammen mit Peter feiert, kommt dadurch zu kurz und
wird schlichtweg vom Zufall verdrängt. Am Ende taucht kurzerhand Mata Hari (Kim Morales) in einer herrlich exotischen Nummer als glamouröse Dea Ex Machina auf, und schon ist der Fall gelöst.
Logik ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Und Holmes somit obsolet.
Immerhin können die Songs des Musicals ansatzweise für die schwache Handlung und die plumpen Dialoge entschädigen, zumindest wenn sie sich aus dem pathetischen Disney- und „Les Miserables“-Duktus
befreien und kompositorisch wagemutiger werden. Das gelingt etwa bei Mata Haris Auftritt, bei „The Art of Deduction“ und vor allem bei dem fantastischen Opium-Duett „Addicted To A Dream“ samt
eingefügter Bellini-Arie, bei dem Bargels kernig-kratziges Organ mit der überaus starken Opern-Stimme Lea Johanna Montazems hervorragend harmoniert. Für Liebhaber boulevardesker Musicals mag dies
als Rechtfertigung für einen Besuch des „Sherlock Musicals“ ausreichen. Für Holmes-Fans eher nicht.
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Gast (Donnerstag, 28 Februar 2019 13:29)
Eine gute Kritik, die ich so voll und ganz unterschreiben kann. Wenn man sich Holmes als (vermeintlichen) Hauptcharakter aussucht, schraubt man die Erwartungen grundsätzlich erst mal sehr hoch. Man erwartet ein spannendes Kriminalstück und ein "Oh, warum ist mir das nicht aufgefallen?" - Gefühl, wenn die große Auflösung am Ende kommt. Das alles gibt es hier nicht. Holmes wird - wie beschrieben - von einer seichten und aufgesetzt wirkenden Handlung sowie den anderen Charakteren in den Schatten gestellt. Schade! Positiv in Erinnerung bleiben letztlich vor allem die erwähnten Auftritte von Mrs. Hudson, Mata Hari oder das "Opium-Duett". Weiterempfehlen kann ich dieses Stück jedoch nicht.
Gast (Montag, 07 Oktober 2019 12:47)
Ich teile diese Kritik. Als Holmes und auch Theater Fan wurde ich von dem Stück leider tief enttäuscht. Mit der klassischen Holmes Figur hatte diese Darstellung nichts gemein. Die Story war platt und vorhersehbar. Einzig hat mich die Darstellerin der Marie spielerisch und gesanglich überzeugt. In der Pause habe ich die Vorstellung nach einer Stunde verlassen. Auch ich kann dieses Stück nicht weiterempfehlen.