„Waisen“: Ein Leben voller Lügen

Er hat es getan. Ausgerechnet er, Thomas, der kreuzbrave, nette Juppie. Hat sich eine Sturmmaske übergezogen und einen wehrlosen Mann bedroht, hat ihn gefoltert, erpresst, in Panik versetzt und sich damit selbst verraten. Alles nur für die Familie. Und für eine Lüge. Eine, die sein Schwager Marco ebenso lebt wie seine Frau Jana und die sich im Verlauf des Psychodramas „Waisen“ nach und nach auflöst. Nun hat das Euro Theater Central das Stück von Dennis Kelly auf engstem Raum inszeniert – und damit ein beklemmendes Meisterwerk geschaffen, das unter die Haut geht.

Es kommt nicht oft vor, dass Theater nur durch das Spiel des Ensembles das Publikum so tief berührt, dass es am liebsten kotzen möchte. Dass es schaudert angesichts dessen, wozu Menschen fähig sind; dass es zusammenzuckt angesichts der zur Schau gestellten Wut auf der Bühne; dass es sich verzweifelt an Werten festhält, um nicht in den selben Abgrund zu stürzen wie Thomas. Michael Meichßner ist dieses Kunststück bereits bei seinem Regie-Debüt gelungen, auch dank eines hervorragend aufeinander abgestimmten Trios und eines Raumes, dessen Enge dem sich entwickelnden Drama sehr entgegenkommt und der durch das Bühnenbild noch einmal kleiner gemacht wurde. Auf nur wenigen Quadratmetern entfaltet sich so die Dekonstruktion einer bürgerlichen Ehe, in der auf den ersten Blick alles in Ordnung scheint. Doch gerade als Jana (Anna Möbius) und Thomas (Stefan Kreisig) beim Essen sitzen und die zweite Schwangerschaft feiern wollen, platzt Annas Bruder Marco (Frank Casali) blutüberströmt herein. Einem jungen Mann habe er helfen wollen, stammelt er und verstrickt sich schon von der ersten Sekunde an in Widersprüche. Dennoch hält Anna zu ihm, verteidigt ihn mit Zähnen und Klauen. Immerhin sind sie und ihr Bruder seit ihrer Kindheit Waisen, letzterer auch vorbestraft und offenbar mit soziopathischen Tendenzen. Egal: Die Familie ist alles, und alle anderen nichts. Auch wenn diese sich hinter Lügen verschanzt. Doch nach und nach bröckelt die brüchige Fassade, die Marco notdürftig konstruiert hat, und mit ihr fällt auch die Welt von Jana und Thomas in sich zusammen. Das traute Heim zerbricht, wird zum nackten Raum, in dem keine Wärme mehr vorherrscht, keine Herzlichkeit, kein Willkommen. Was bleibt, ist eine Wahrheit, die schmerzt: Der Mensch ist zu allem fähig, weil er sich im Notfall einfach eine Rechtfertigung konstruiert. Wer keinen Grund hat, der macht sich eben einen. Und schlägt dann um so stärker zu.

„Waisen“ ist alles andere als leichte Kost, erfordert sowohl einen starken Magen als auch hohe Konzentration angesichts eines mit Fragmenten, Negierungen und Wiederholungen gespickten Textes. Andererseits entschädigt das überragende Spiel der Darsteller für alles: Anna Möbius deckt zwischen eiskalter Berechnung und überbordender Mutterliebe das gesamte emotionale Spektrum ab, Stefan Kreisig wird als Thomas immer desillusionierter, und Frank Casali brilliert als offensichtlich gestörter Bruder, der zunächst Mitgefühl und dann in zunehmendem Maße Ekel weckt. Keine Bonner Inszenierung dieses Jahres kann mit dieser Intensität mithalten, kann derart aufwühlen und bewegen. Das Euro Theater Central, das aufgrund gestrichener städtischer Zuschüsse ab 2020 vor dem Aus steht, zeigt mit dieser Produktion eindrucksvoll, warum es seit jeher für Qualität steht. „Waisen“ ist Theater in Perfektion, ungeheuer verstörend und gerade deshalb unabdingbar für einen gesellschaftlichen Diskurs, an den sich nur wenige heranwagen. Besseres Theater kann man derzeit in Bonn und der Region einfach nicht sehen.

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