„Die Odyssee“: Das Ziel heißt Heimat

Einfach mal ankommen. Ruhe und Frieden finden nach all den Gefahren der Reise, nach der ständigen Ungewissheit und der permanenten Bedrohung. Das Ziel nennt sich Heimat. Doch die ist nicht immer so leicht zu erreichen. Millionen Menschen befinden sich derzeit auf einer Odyssee, über Gebirge und tosende See in Richtung des gelobten Landes, das viele nie erreichen werden. Mit diesen Schicksalen im Hinterkopf hat Regisseurin Christina Schelhas jetzt Homers Epos über die Irrfahrten des Odysseus in eine bildgewaltige Performance übersetzt, die das Publikum atemlos zurücklässt. Sofern denn die Dechiffrierung der Szenen gelingt.

Schelhas macht es den Zuschauern wahrlich nicht einfach. Ihre drei mit Staub und Lehm bedeckten Schauspieler (Lucas Sanchez, Julia Hoffstaedter, Mario Högemann) robben sich über, unter und durch eine riesige Plastikplane, rezitieren wild durchmischte Hexameter, fauchen, japsen und jaulen in eine Loop-Station und schaffen so ebenso eindrucksvolle wie komplexe Szenen, die nicht ohne weiteres zu durchdringen sind. Zugegeben, einige Bilder wirken intuitiv, sprechen auf einer gewissen Ebene die Seele an – doch ist dies nicht mehr als ein hilfloses Treiben auf dem Meer der Anspielungen. Zur Navigation in die Tiefen der Darbietung bedarf es des homerischen Textes. Mit ihm im Kopf wird jedoch dann aus der Irrfahrt eine intellektuelle Kreuzfahrt: Die herrlich absurde Verköstigung des Publikums mit frisch geschnittenem Gemüse erweist sich als Falle der Zauberin Circe, das dem Plastikmeer bedrohlich entsteigende Wesen als der Zyklop Polyphem, Sohn des Poseidon. Auch Skylla und Charybdis tauchen auf, die Fahrt in den Hades samt des Treffens mit dem Seher Teiresias ebenso. Und immer wieder die selben Fragen: „Was ist mit meiner Frau? Was mit meinem Sohne?“ Fragen, die auch die modernen Odysseus-Gestalten stellen, all die Flüchtlinge, die nach Europa streben und dabei allen Gefahren trotzen, alle Hindernisse überwinden. Ihre Geschichten schwingen unterschwellig mit, finden sich im beständigen Kampf gegen die Elemente, höheren Mächten ausgeliefert, die willkürlich über die Schicksale der Menschen entscheiden.

Mit dem nötigen Vorwissen ist „Die Odyssee“ ein theatraler und performativer Hochgenuss, aufregend, anregend, anrührend. Nicht zuletzt wegen der drei Schauspieler: Sanchez, Högemann und die schwangere Hoffstaedter geben in den etwa 90 Minuten alles, perfekt miteinander harmonierend und mit bemerkenswerter Intensität die mythische Handlung in die Gegenwart übertragend. Schade, dass für das Stück nur drei Termine angesetzt sind. Diese poetische, intelligente und überaus aktuelle Darbietung hätte mehr verdient.

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