„Der Kirschgarten“: Das Haus der zerbrochenen Träume

Die Welt zerfällt, und keiner will es wahrhaben: Immer wieder skizziert Anton Tschechow in seinen Stücken die Selbsttäuschung einer russischen Oberschicht, die in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht längst nichts mehr zu melden hat und sich daher einer Illusion hingibt, einem Schein der guten, alten Zeit. Dieses Szenario liegt auch dem „Kirschgarten“ zugrunde, den das studentische Ensemble Dauertheatersendung zunächst in der Brotfabrik inszeniert hat und am kommenden Freitag und Samstag im Kult 41 noch einmal aufführen wird. Eine mutige Stückwahl für die noch junge Gruppe, fehlt doch eine konkrete, stringente und vor allem das Publikum mitreißende Handlung, so dass die Charakterisierung der ambivalenten Figuren alle Blicke auf sich lenken muss – was der Dauertheatersendung mitunter tatsächlich erstaunlich gut gelingt.

Die Geschehnisse auf der Bühne sind schnell erzählt: Gutsbesitzerin Ljubov Ranjevskaja (zwischen bewusst überzeichneter hysterischer Fröhlichkeit und tragischer Niedergeschlagenheit schwankend: Judith Ponwitz), die in Paris auf großem Fuß lebte, kehrt auf ihr russisches Landgut zurück, das versteigert werden soll. Der ehemalige Leibeigene der Familie Lopachin (Thomas Liessem mit einem exzellenten Gespür für kleine Gesten), mittlerweile ein erfolgreicher Kaufmann, will das Grundstück kaufen und Ferienhäuser bauen – dafür muss aber der Kirschgarten, das Herzstück des Gutes, abgeholzt werden. Während die Ranevskaja dies ebenso wie ihre Familie ignoriert und lieber in Erinnerungen schwelgt, kommt es zum Unausweichlichen. Der Traum platzt. Und die Bäume sterben.

Die innere Zerrissenheit der Charaktere, die das Stück fordert, stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für das Laien-Ensemble dar. Eine, die mitunter zu groß ist und einige Figuren mitunter blass erscheinen lässt. Andererseits gelingt es dem ein oder anderen Nebendarsteller, für brillante Momente zu sorgen: Schön, wie souverän und unaufgeregt Nadine Matern das Dienstmädchen Dunjaša verkörpert; köstlich, wie Stefanie Waldschmidt als bei jeder Gelegenheit um ihre Pacht bettelnde Simeonova-Pišċik ihre Verzweiflung mit Humor überdeckt; und grandios, wie Stefan Weichts Kontorist Epichodov, der Mann mit den zwei linken Händen und der allgegenwärtigen Melancholie, in jedem Moment seines Scheiterns die lustigste Figur des Stücks ist. Unübertroffen allerdings die Leistung von Susann Zetsche, die als uralter Lakai Firs die Personifikation jener Zeit ist, die sich überlebt hat und der die Herrschaften beständig nachtrauern. Der zerbrechliche, bemitleidenswerte Greis, der die Revolution als Unglück bezeichnet und sich ein Leben in Freiheit einfach nicht vorstellen kann, ist der eigentliche Star der Inszenierung. Leider hat sich das Regie-Duo Xenija Zoller und Tobias Gülich nicht getraut, diese vollständig darauf auszurichten und stattdessen einige verzichtbare Nebenstränge zu streichen. Eine stringentere Linienführung hätte dem Stück ebenso gut getan wie eine noch stärkere Besinnung auf die Vielschichtigkeit der Hauptfiguren, auf das Spiel mit dem zerschlissenen Mantel des Schweigens, den sie über den drohenden Untergang des Hauses legen und der doch immer wieder herunterrutscht und das darunter liegende Elend offenbart. Dennoch ist die Leistung des Ensembles nicht kleinzureden und bietet eine gute Ausgangsbasis für weitere Produktionen. Da geht noch was. 

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