„Das Fest“: Schlachtfest für Verdrängungskünstler

Eigentlich ist schon am Anfang alles kaputt. Die gute Laune der Besucher der Familienfeier anlässlich des 60. Geburtstags von Patriarch Helge (brillant: Bernd Braun) ist nicht mehr als eine hauchdünne, bereits rissige Fassade, mit der Wut, Abscheu und Erniedrigung notdürftig überdeckt werden. Verdrängung eben. Die schöne heile Welt der bürgerlichen Familie ist eine Illusion, unter der Missbrauch in all seinen Formen lauert: Das ist das große Thema in „Das Fest“, jenem Film des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg, der als erster die Regeln der Gruppe Dogma 95 befolgte und dadurch international bekannt wurde. Nun hat Martin Nimz den Stoff in den Kammerspielen inszeniert und dabei ein aufwühlendes Bild einer Gesellschaft gezeichnet, die an Wahrheit nicht interessiert ist, sofern sie ihr nicht mit Gewalt in den alkoholgetränkten Rachen gestopft wird. Ein trotz mancher Längen starkes Stück, das vor allem von der hervorragenden Ensemble-Leistung getragen wird.

Der bemüht beschauliche Festtag wird durch eine Offenbarung erschüttert: Christian, der älteste Sohn (großartig: Benjamin Grüter), beschuldigt in einer Rede seinen Vater des sexuellen Missbrauchs an ihm und seiner durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Zwillingsschwester Linda (die dank Lydia Stäubli immer wieder geisterhaft präsent ist). Die Antwort ist Schweigen. Oder Verdrängung. Oder beides. Keiner will etwas davon wissen, weder die zunächst sexsüchtig erscheinende, labile, Konfrontationen meidende Schwester Helene (vielschichtig: Sophie Basse), die nicht zuletzt an der auf verschiedenen Ebenen spürbaren Ablehnung der Familie gegenüber ihrer Geliebten Karla (Birte Schrein) leidet, noch der um die Aufmerksamkeit und den Respekt seines Vaters ringende Bruder Michael. Bei letzterem kein Wunder, immerhin hat er sich zu einem cholerischen Despoten entwickelt, der seine Frau Mette (Johanna Flackner) erniedrigt, seine Kinder ablehnt und damit nur eine andere Form des Missbrauchs betreibt, die Helge zur Last gelegt wird – dass man ihn dafür dennoch nicht so wirklich hassen kann, liegt an dem herausragenden Spiel Benjamin Bergers, der in seinem beständigen Wechsel zwischen arrogantem Mistkerl und hilfsbedürftigem seelischem Wrack eine bemerkenswerte Charaktertiefe präsentiert.

Trotz der Ablehnung durch die Familie gibt Christian nicht auf. Während dank der Wirkung des ausgiebig fließenden Weins das Geburtstags- in ein emotionales Schlachtfest verwandelt wird, legt er nach, spielt in Anlehnung an Hamlet mit Schaufensterpuppen in einer der eindringlichsten Szenen des Abends eine Missbrauchs-Episode nach, gibt Helge die Schuld am Suizid Lindas und behauptet, seine Mutter Else (Ursula Grossenbacher) hätte von allem gewusst. Und geschwiegen. Unterstützung erhält er vom Personal, von seinem Jugendfreund Kim (Robert Höller), sowie den Dienstmädchen Michelle (exzellent: Svenja Wasser) und Pia (Mareike Hein). Irgendwann ist der Putz endgültig abgebröckelt, ist die Wahrheit unübersehbar, gibt Helge alles zu. „Ihr ward nicht mehr wert“, wettert er, der doch sonst immer so gelassen und souverän agierte. Und die Gesellschaft? Schließt ihn aus – und macht weiter, als ob nichts gewesen wäre. Was eigentlich der schockierendste Moment im Stück ist.

Martin Nimz hat mit „Das Fest“ einen, wenn nicht gar den schauspielerischen Höhepunkt der nun endenden Theatersaison geschaffen. Die Balance zwischen Groteske und erschreckend ernstem Realismus ist perfekt, das Ensemble in Bestform. Probleme ergeben sich eher aus technischer Sicht: Durch die ungewohnte Bühnenform (Zuschauerränge erheben sich zu beiden Seiten, gespielt wird in der Mitte) ist trotz aller Bemühungen der Darsteller nicht immer jedes Wort zu verstehen, zumal der Einsatz der Mikrofone eher erratisch erfolgt. Auch das fehlende Tempo der Handlung mag mitunter irritieren, obwohl es letztlich der inszenierten Situation geschuldet ist – Mitwirkende realer Familienfeste können davon ein Lied singen. Dadurch zieht der inklusive Pause immerhin dreistündige Abend mitunter etwas in die Länge. Allein, die Mühe lohnt sich. Ernsthafter, kritischer und gesellschaftlich relevanter kann Theater kaum sein.

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