„Closer“: Wahrheitssuche als Lebenslüge

„Ich will doch nur die Wahrheit wissen“, schreit Dan. Aber klar. Selbstkasteiung nennt sich so etwas, geboren aus Misstrauen und Eifersucht. Denn natürlich bedeutet die Wahrheit auch zugleich den Zusammenbruch. Zumindest in Patrick Marbers Kammerspiel „Closer“, das die Bonn University Shakespeare Company (BUSC) am vergangenen Freitag erstmals in der Brotfabrik aufgeführt hat. Das emotional aufwühlende Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel zwischen dem Schriftsteller Dan (Tamer Afifi), der Stripperin Alice (Esther Takats), der Fotografin Anna (Beate Linnenkamp) und dem Dermatologen Larry (Chris Karpenchuk) lebt von der auf Täuschungen und Illusionen basierenden Liebe und deckt diese doch immer wieder schmerzhaft auf, Beziehungen zerreißend und die Figuren an den Rand des Abgrunds führend.

Die BUSC-Schauspieler haben mit „Closer“ einen Geniestreich abgeliefert. Mehr als drei Stunden höchste Konzentration, schreiend, weinend, begehrend und verzehrend die gesamte Gefühlpalette abrufend, ohne dabei gekünstelt zu wirken – das ist eine Herausforderung, der sich zumindest im Hobby-Bereich nur sehr wenige stellen und die noch weniger meistern. Dem Quartett ist es jedoch unter der Regie der Theaterlehrerin Janine Lockwood-Brusa gelungen, die Balance zu wahren, der Komik ebenso Raum zu geben wie dem Schmerz. Beides ist in Marbers Stück reichlich vorhanden: Wenn etwa Larry und Dan, der sich als Anna ausgibt, in einem herrlich schrägen Chat-Dialog dank der Anonymität des Internets eine Obszönität nach der anderen austauschen und der nichts ahnende, geifernde Arzt schließlich auf die echte Anna trifft, bricht sich automatisch das Lachen Bahn; eine große Trennungsszene auf geteilter Bühne (die ständigen Fokuswechsel gelingen dabei hervorragend, ebenso übrigens wie spätere Rückblenden innerhalb einer Szene) sorgt dagegen für Bedrückung. Und weckt die Frage nach den eigenen Lebenslügen.

Das Ensemble offenbart in ihrem Spiel alle Seiten ihrer Charaktere: Afifis Dan mimt gegenüber Anna den Romeo, führt Larry regelmäßig vor und ist doch zutiefst verletzlich, ebenso wie die zunächst forsch auftretende Anna, der Beate Linnenkamp ein sowohl kantiges als auch weiches Profil verleiht. Begeistern kann auch Karpenchuk, dessen Larry über einen oft diabolischen Zynismus verfügt und mehr als jeder andere nach der Tortur namens Wahrheit sucht. Das größte Lob gebührt jedoch Esther Takats, die für ihre Rolle vor nichts zurückschreckt und in einer Stripclub-Szene, lasziv in sehr freizügigem Netzhemd und Latexhöschen tanzend, die Bühnenluft zum Knistern bringt. Ein sehr mutiger Schritt, der sich aber gelohnt hat: In keiner anderen Szene wirkt Alice so real, so greifbar, lässt sich ihr Hang zur Verhüllung der Wahrheit so gut nachvollziehen. Der exzellente Höhepunkt einer hervorragenden Inszenierung. Bitte mehr davon.

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