„Tote Mädchen lügen nicht“: Viele kleine Stiche, eine große Wunde

Was ist der Grund für einen Selbstmord? Verleumdung? Lügen? Sexuelle Belästigung? Oder vielleicht doch eher alles zusammen, wie bei Hannah Baker, der Hauptfigur von Jay Ashers Roman „Tote Mädchen lügen nicht“? Viele kleine Verletzungen einer empfindsamen Seele, die aber die Wunde immer größer werden lassen, bis die Schülerin sich schließlich das Leben nimmt. Doch nicht, ohne sich zu erklären – und zugleich anzuklagen: Sieben Kassetten hat sie im Vorfeld aufgenommen, auf denen sie von 13 Personen erzählt, deren Verhalten, bewusst und unbewusst, Auswirkungen auf ihre Entscheidung für den Suizid hatte und die sich nun Hannahs Geschichte anhören sollen. Kein leichter Stoff also, den das Junge Theater Bonn als szenische Lesung aufbereitet hat. Aber ein wichtiger.

Clay Jensen ist einer von jenen, die Hannahs Kassetten erhalten. Clay, der in das Mädchen verliebt war, für einen kurzen Moment sogar von einer echten Beziehung träumen und den Suizid dennoch nicht verhindern konnte. Durch die Stadt wandernd lauscht er Hannahs Stimme aus dem Grab, erinnert sich an die im Umlauf befindlichen Gerüchte und erhält nach und nach einen immer tieferen Einblick in ihr sensibles Innerstes. Eine ziemliche Belastung für den jugendlichen Romeo, den Leon Döhner recht einfühlsam spielt. Er hätte ein Lichtblick und ein Anker in Hannahs Leben sein können – hätte sie das zugelassen. Doch sie blockt ab, aus Angst vor einer erneuten Enttäuschung, so wie sie dies schon bei so vielen anderen Mitschülern (gespielt von Carlo Hajek, Mascha von Kreisler, Victor Pasztor und Mina Grohe) erlebt hat, die sie ausnutzten, belogen und Gerüchte über sie in Umlauf setzten, mit denen die Jugendliche nicht umzugehen wusste.

Gilda Masala, die schon einige große Rollen beim Jungen Theater übernommen hat, hat mit Hannah den textlich anspruchsvollsten Part zu meistern – eine Aufgabe, die sie, von einigen kleinen Stolperstellen abgesehen, bravourös erfüllt. Immer wieder sucht sie nach neuen Stimmfarben, um die komplexen Emotionen ihrer Rolle wiederzugeben: Mal verdammt sie, mal trauert sie, dann wieder erklärt sie sich auf relativ nüchterne Weise, immer auf die Konsequenzen hinweisend, die das unbedachte Handeln der anderen ausgelöst haben. Nicht immer ist Hannah dabei logisch: Bei sich selbst sieht sie keine Fehler, nimmt selbst Kleinigkeiten persönlich, ist manchmal unfair und unzugänglich, verstrickt sich teilweise in Widersprüche – aber wann ist eine Seele schon logisch? „Hoffentlich ist das eine Qualität unserer Arbeit, und kein Mangel“, schreibt Regisseur Moritz Seibert im Programmheft. Ist es. Ob allerdings das Streichen zweier von Hannah beschuldigter Figuren ebenso gelungen ist, sei dahingestellt.

Letztlich erfüllt das Junge Theater Bonn die Erwartungen des Publikums. Zwar bietet „Tote Mädchen lügen nicht“ im direkten Vergleich nicht ganz die Intensität des grandiosen, ebenfalls düsteren Jugenddramas „Nichts“, weiß aber durch seine realistische Darstellung des Innenlebens von Teenagern (was sowohl eine Lehrerin als auch ein Notfallseelsorger bestätigten) zu berühren. 

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