„Getürkt“: Wer ist Musa?

Wer ist Musa? Ein Libanese? Das haben ihm seine Eltern immer erzählt. Es war gelogen. Ein Deutscher? Immerhin ist er in Berlin aufgewachsen, hat dort seine Freunde, kennt nichts anderes. Aber der Staat sagt nein, schiebt ihn ab. Ein Türke? Warum? Weil seine Eltern einst aus diesem Land flohen, zu dem der 18-Jährige keine Verbindung hat, dessen Sprache er nicht beherrscht? Weil die Behörden es so wollen? Wer ist Musa, der nicht sein darf, was er gerne wäre, und der nicht sein will, was er angeblich ist? Diese Frage kann auch das für den deutschen Jugendtheaterpreis 2012 nominierte Stück „Getürkt“, das am vergangenen Mittwoch in der Werkstatt des Theaters Bonn seine Premiere feierte, nicht beantworten. Kann nicht und will nicht.

Stattdessen zeichnet Autor Jörg Menke-Peitzmeyer das Bild eines entwurzelten, labilen jungen Mannes, der sich krampfhaft, ja fast schon psychotisch einem neuen Leben in Istanbul verweigert, sich nach Berlin sehnt und zugleich den deutschen Staat verflucht: „Ihr schmeißt mich aus meinem eigenen Land“, schreit er ohnmächtig auf einer Bühne, die von Transportkisten beherrscht wird. Abschiebeeinheiten. „Fragile“ steht darauf, zerbrechlich. Im Falle Musas kommt die Warnung zu spät. Er steht Kopf, ist bereits zerbrochen, sein Leben ein Scherbenhaufen. Und jedes Bruchstück ist letztlich getürkt.

 

Sinan Hancili spielt die Rolle des aufgewühlten und gegen alles protestierenden Musa mit kraftvoller Emotionalität, lässt ihn manchmal beinahe bockig wirken, wie ein beleidigtes, schmollendes Kind. Dies kommt vor allem in den Dialogen mit Musas Freundin Ceren (Elmira Rafizadah) zum Vorschein, die er liebt und zugleich beneidet. Sie, die in der Türkei geborene, hat einen deutschen Pass, der ihm vorenthalten wird. Sein Geburtsrecht, glaubt Musa, der sich mit Händen und Füßen gegen die Abschiebung wehrt, gegen seine aufgezwungene Eintürkung und gegen ein System, das ihm keine Chance lässt und das doch so fragwürdig, teilweise gar absurd ist. Verkörpert wird es durch einige Nebenfiguren, denen Fabienne Trüssel und Hans H. Diehl eine Gestalt geben. Vor allem Diehl begeistert: Mit verblüffender Wandlungsfähigkeit schlüpft er in die unterschiedlichen Rollen eines in Abschiebehaft sitzenden Jugoslawen, eines Polizisten, eines Transvestiten und eines sich selbst filmenden egozentrischen Behördenleiters und schafft es dabei, in allen Situationen eine schauspielerische Glanzleistung abzurufen.

 

Der tragischen, auf einer wahren Geschichte beruhenden Haupthandlung um Musa haben Menke-Peitzmeyer und Regisseurin Marita Ragonese immer wieder Filmszenen gegenübergestellt, mit einer Handkamera aufgenommene soap-artige Büroalltagsszenen aus der Ausländerbehörde. Nicht nur an dieser Stelle setzt das Team auf Multimedialität: Eine Unterhaltung zwischen Musa und Ceren läuft als Chat ab, den die beiden Liebenden verlesen. Eine nette Idee – doch gerade an diesen Stellen hapert es noch mit dem Timing, kommen Sätze zu früh oder zu spät, entstehen unnötige Pausen, die das ohnehin durch einige sehr in die Länge gezogene Szenen belastete Stück noch weiter dehnen. Allerdings ist das Kritik auf hohem Niveau: Als aufrüttelndes Identitäts- und Integrationsstück (die Uraufführung des Stücks fand im Oktober 2012 bei der Eröffnung der interkulturellen Wochen der Stadt Offenburg als Kooperationsprojekt zwischen dem Theater Bonn und dem Theater Baal novo statt) funktioniert „Getürkt“ erstaunlich gut. Auch wenn am Ende die Frage nach dem Schicksal Musas offenbleibt. Weil es keiner kennt. Aber das ist eben Teil der Tragödie.

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