„Die Odyssee“: Die ungehörten Lehren der Vergangenheit

Nicht die Götter sind schuld, sondern die Gier: Mit dieser Prämisse hat der Haus- und Hofregisseur des Theater Bonn, Simon Solberg, zusammen mit dem Beethovenorchester Homers legendäre „Odyssee“ in Form einer Sprechoper auf die Bühne des Schauspielhauses Bad Godesberg gebracht und damit die Spielzeit 2025/26 eröffnet. Ein gigantisches Versepos, das die Literaturgeschichte geprägt hat wie kein anderes, mit eigenwilliger, cineastisch anmutender Musik von Komponist Ketan Bhatti und reduziert auf 90 Minuten, das ist schon ein ambitioniertes Projekt. Aber eines, der durchaus gelingt. Zumindest bis kurz vor Schluss.

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QUATSCH KEINE OPER präsentiert



Tatsächlich ist es Solberg gelungen, die verschiedenen Handlungsstränge zumindest in rudimentärer Form beizubehalten, ohne dabei zu große Lücken entstehen zu lassen. Penelopes Kampf gegen die unerwünschten Freier, die sie des Thrones willen begehren, erhält beinahe ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Abenteuer des Odysseus. Einige aus dramaturgischen Gründen sinnvolle Streichungen (etwa die sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso oder der vernichtende Angriff der gigantischen Laistrygonen) fallen kaum ins Gewicht – erstaunlicherweise gilt dies aber auch für das nahezu völlige Fehlen der Götter. Solberg hat den archaisch anmutenden Text im positiven Sinne profanisiert, hat die Olympier nur noch schemenhaft in dem ein oder anderen Vorwurf der Gefährten des Odysseus belassen, in entscheidenden Momenten die Verantwortung für die Irrfahrt aber den Menschen übertragen. Sie sind es, die voller Gier den Schlauch des Windgottes Aiolos öffnen und damit die gefangenen Stürme entweichen lassen, und sie sind es auch, die immer wieder nach Beute streben, anstatt auf Odysseus (Glenn Goltz) zu hören und sich auf die Heimfahrt zu konzentrieren. Vor allem ihr Wortführer Antinoos (Alois Reinhardt) begehrt immer wieder gegen das Kommando des Listenreichen auf; mitunter allerdings zu recht, denn die eigenen Fehler kann Odysseus nicht eingestehen. Sein Hochmut zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, bis hin zu dem konfusen Ende, in dem sich der Konflikt mit den eigenen Leuten und mit den Freiern Penelopes vermischt. Auf die vorsichtige Annäherung des Königs von Ithaka, seine Verkleidung und das Treffen mit seinem Sohn Telemachos verzichtet Solberg und greift stattdessen brutal in die antike Geschichte ein: Bei ihm stirbt Telemachos durch einen Pfeil von Odysseus, der sein eigen Fleisch und Blut nicht erkennt. Ein brutales Ende, in dem sich erneut die Frage nach Schuld und Verantwortung spiegelt.

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All das hat Ketan Bhatti im Rahmen eines Fellowship Programms des Beethovenfests mit einem eindrucksvollen Klangkosmos versehen. Dissonanzen und Sound-Effekte schwirren durch den Raum, dazwischen Klagelieder und Musik gewordene Emotionen. Mitunter greift er dabei auch auf die irakische Spießgeige Djoze zurück oder auf die armenische Flöte Duduk mit ihrer hypnotischen Tonsprache. Die Verschmelzung mit der Bühnenhandlung gelingt dabei meisterlich, zumal auch Licht, Kulissen und Kostüme brillant gesetzt sind. Auf einem großen Kreis aus Mulch toben Goltz, Reinhardt sowie Christian Czeremnych (Telemachos und Elpenor), Timo Kählert (Polites) und Julia Kathinka Philippi (Penelopé und Kirke) herum, greifen nach Seilen und Tüchern, tanzen und wüten in einer komplexen Choreographie. Diese hat sich allerdings zumindest am Premierenabend noch nicht ganz gefestigt, wo die ein oder andere Szene ein wenig bemüht wirkt und aus dem Takt ist. In der Regel fängt sich das Schauspiel-Ensemble aber schnell wieder und sorgt so für einen eindrucksvollen Auftakt, und das mit einem Stoff, der auch nach fast 3000 Jahren immer noch wichtige Fragen zu stellen vermag – die gelegentlichen aktuellen Bezüge fügen sich dabei zwar nicht sprachlich, wohl aber inhaltlich hervorragend in das Textgeflecht ein. Und so stellt man mit Erschrecken fest, dass die Menschheit zumindest gewisse Lehren seit der Zeit der „Odyssee“ immer noch nicht gelernt hat.


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