Kein Künstler hat einen größeren Einfluss auf Wolfgang Niedecken ausgeübt als Bob Dylan. Die Begeisterung für den legendären Musiker, der wie kein anderer die Seele der USA in seinen Texten eingefangen hat, durchdringt jede Faser von Niedeckens Körper, und so ist es kein Wunder, dass er im Laufe der Jahre etliche Dylan-Songs nicht nur interpretiert, sondern auch eingekölscht hat. Ein Buch über den „Meister“ hat er ebenfalls geschrieben, für irgendwas musste Corona ja gut gewesen sein. Jetzt hat er in der gut gefüllten Bonner Oper daraus gelesen und zusammen mit dem Pianisten Mike Herting natürlich auch etliche Songs präsentiert, die für Niedecken eine besondere Bedeutung haben – und die man kaum besser hätte interpretieren können.
Die beiden Berlinerinnen, Jahrgang 1984 und Alumni der Folkwang Universität der Künste, nutzen Kafka eigentlich weniger für seine absurden Erzählungen als vielmehr wegen der Einsamkeit, die in vielen seiner Texte ein zentrales Motiv ist. Der unglückliche Junggeselle Blumfeld ist in gewisser Weise ein Gegenentwurf zu den Zwillingen, die überaus geschickt mit Identität und Individualität jonglieren. Mal wollen sie beide die selbe Figur verkörpern, dann wieder grenzen sie sich bewusst voneinander ab, die eine von einem Haus auf dem Land träumend und die andere vom pulsierenden Leben der Metropole, in der man auch um halb drei in der Nacht noch eine Feder-Boa kaufen kann, wenn man nur möchte.
Mit seiner Verehrung für Dylan steht Niedecken nicht allein da, das ist klar. Ganze Generationen von Lyrikern und Songschreibern verweisen auf ihn, auf seine Bild- und seine Tonsprache, lediglich
die Beatles und die Rolling Stones übten (und üben) einen ähnlichen Einfluss auf unzählige Musikerinnen und Musiker aus. Dennoch ist Niedecken prädestiniert dafür, Dylan ausgiebig zu würdigen,
er, der sein Vorbild nie imitiert oder kopiert, sondern dessen Essenz absorbiert hat und sich diese zu eigen gemacht hat. Der Meister schwingt immer mit, auch bei Niedeckens eigenen Stücken,
überlagert diesen aber ebenso wenig wie er im Hintergrund verschwindet. In gewisser Weise ist es eine Begegnung auf Augenhöhe; gleichzeitig erinnert die Grundlage für Buch, CD und Bühnenprogramm
an eine Pilgerreise. Der Fernsehsender ARTE hat Niedecken nämlich 2017 gebeten, eine kleine Serie über Bob Dylans Amerika zu machen, und so ist dieser mit einem sechsköpfigen Team und samt Frau
eben auf Spurensuche durch die Staaten gefahren. Diese Erlebnisse hat Niedecken in seinem Buch verarbeitet und parallel dazu seine persönlichen Verbindungen aufgearbeitet. „Ohne Bob Dylan wäre
ich wahrscheinlich niemals Sänger geworden“, bekennt er. Dabei konnte er mit diesem als Teenager noch nicht einmal viel anfangen – damals kannte er „Blowin’ in the Wind“ aber auch nur in der
weichgespülten Version von Peter, Paul und Mary. But the Times, they are a changin’.
Den größten Eindruck habe, so erzählt Niedecken, das Album „Desire“ hinterlassen, dieses von beträchtlicher Vielschichtigkeit und enormem Klangreichtum geprägte Meisterwerk aus der produktivsten
und experimentierfreudigsten Phase Dylans, für das er eine zehnköpfige Band um sich scharte, unter anderem mit Eric Clapton, und Emmylou Harris. Für manche könnte genau das ein Problem
darstellen. Nicht so für Niedecken und Herting. Ihnen gelingt es, den Song „One More Cup Of Coffee“ auf das Wesentliche zu reduzieren, verzichten auf Geigen-Sounds und Flamenco-Rhythmen und
setzen stattdessen auf Hertings Genialität am Flügel sowie auf Niedeckens Talent als erzählender Sänger. Klasse. Ähnlich stark sind etwa „My Back Pages“, „Mighty Quinn“ oder auch das dunkle, vom
Timbre her an Johnny Cash erinnernde „Man With The Long Black Coat“. Dazwischen dann die Lese-Passagen über Obdachlose in San Francisco, Krabbenfischer in den Bayous von New Orleans und das Big
Pink in Woodstock, wo Dylan seine „Basement Tapes“ aufnahm, allesamt Teile der ARTE-Reihe. Doch Niedecken hat noch mehr zu berichten, Privates und Biographisches, etwa von einem desaströsen
Konzert Dylans zusammen mit Tom Petty und seinen Heartbrakers, bei dem der Meister unglaublich schlecht drauf war und das Niedecken trotzdem bis zum Ende durchstand: „Ich bin halt ein Träumer“,
sagt er, „und außerdem verlasse ich ja auch nicht das Müngersdorfer Stadion, wenn der FC Köln hinten liegt.“ Andere Auftritte Dylans haben in späteren Jahren diesen Ausrutscher ausgebügelt.
Fast drei Stunden (inklusive Pause) spielt und liest Niedecken, begleitet von Härting, der zu Recht – ebenso wie Niedecken – häufig Zwischenapplaus und am Ende stehende Ovationen erhält. Die
Setlist ist trotzdem nicht übermäßig lang, was aber gar nicht schlimm ist, sind doch die Geschichten Niedeckens auch in Prosa-Form ein Genuss. Wer das Dylan-Konzert übrigens noch erleben möchte,
muss sich beeilen und eine längere Anfahrt in Kauf nehmen, denn viele Auftritte stehen nicht mehr auf dem Spielplan. Damit werden Niedecken und Herting immerhin noch dreistellig (das Konzert in
Bonn war Nummer 98), wollen es dann aber gut sein lassen und sich auf andere Projekte konzentrieren. Auf ein gemeinsames, das schon in Arbeit ist. Und auf die neue BAP-Tour „Zeitreise“ mit allen
Songs der beiden Erfolgs-Alben „Für Usszeschnigge!“ und „Vun Drinne Noh Drusse“. Da schwingt an der ein oder anderen Stelle übrigens ebenfalls Bob Dylan mit.
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