Aus irgendeinem Grund haben skandinavische Jazz-Musikerinnen und -Musiker ein ganz besonders enges Verhältnis zu schönen Melodien. Der vollständigen Dekonstruktion von Zeit und Klang und damit verbunden das avantgardistische Verständnis von Rhythmus, Tonalität und Harmonie, die insbesondere im Mitteleuropa und in den USA sehr ausgeprägt sind, setzen viele der schwedischen, dänischen und norwegischen Jazzer das Konzept des Singbaren entgegen, das sie aus der eigenen Volksliedtradition ableiten und auch bei virtuosen Instrumentalstücken gerne umsetzen. Im Pantheon stellt das Jazzfest Bonn nun diese Facette in den Fokus und präsentiert mit dem Helge Lien Trio sowie Viktoria Tolstoy ein bewegendes, aber auch druckvolles Doppelkonzert.
Lien, der erst wenige Tage zuvor seinen 49. Geburtstag gefeiert hat, blickt zusammen mit Bassist Johannes Eick und Drummer Knut Aalefjær auf insgesamt 35 Jahre als Komponist zurück – „Hymn“, die erste Nummer des Abends, hat er tatsächlich als Teenager geschrieben. Und sie funktioniert auch heute noch. Der lyrisch-melancholische Grundton bietet schließlich mehr als genug Raum für Improvisation. Wie ein Wasserfall strömen die Noten aus Lien heraus, plätschern und sprudeln über und durch den Flügel, Band und Publikum gleichermaßen in Traumwelten entführend. Die Musik des norwegischen Jazz-Poeten ist dabei abstrakt, aber überaus zugänglich, ein schier unendliches Band an perlenden Tönen mit deutlichen Bezügen zur Romantik und darüber hinaus. Irgendwann zitiert Lien, der gerne mehrere Stücke ineinanderfließen lässt, sogar Beethoven, verjazzt en passant das Hauptmotiv der „Ode an die Freude“ und verneigt sich dabei vor dem größten Sohn der Stadt. Eine schön Geste.
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Während das Helge Lien Trio das Konzert im Großen und Ganzen entspannt nimmt und selbst in ihren wildesten Momenten ganz bewusst keinen Druck aufbauen, kehrt Viktoria Tolstoy dies in ihrer Hälfte des Abends um. Die Grande Dame des nordischen Vokal-Jazz (neben Cæcilie Norby) verfügt über eine herrlich strahlende, kraftvolle Stimme, die zwar auch zu Balladen passt, ihr volles Potenzial aber erst bei etwas flotteren Stücken auslotet. „Wenn du singst, geht die Sonne auf“, sagte Pat Metheny einst zu ihr – und die bestens gelaunte Viktoria Tolstoy sorgt an diesem Abend in der Tat für zahlreiche Sonnenaufgänge. Die Musik dafür hat sie sich denn auch auf den Leib schreiben lassen. 20 Jahre nach ihrem Debütalbum beim Top-Label ACT hat sie viele langjährige Freunde und Kollegen um Kompositionen gebeten, darunter Iiro Rantala (der ihr ein erstaunlich fetziges Stück überlässt) und Ida Sand.
Natürlich waren an „Stealing Moments“, dessen Songs sie im Pantheon fast komplett singt, jene beteiligt, die schon bei „Shining On You“ mitgewirkt haben: Der damalige Produzent Nils Landgren hat ihr einen „Love Song“ geschrieben, Bassist Lars Danielsson (zusammen mit der bereits genannten Cæcilie Norby) die James-Bond-artige „Licence to Love“ und Drummer Wolfgang Haffner die Up-Tempo-Ballade „Synchronicity“. Und sogar der viel zu früh verstorbene Esbjörn Svensson, der 2004 die gesamte Musik für Tolstoys Album komponierte, meldet sich aus dem Jenseits zurück: Letztere hat „Hands Off“ aufgenommen, mit einem Text von Svenssons Ehefrau Eva. Tolle Stücke – da wäre die hektische Interpretation von Eric Claptons „Change the World“ gar nicht nötig gewesen. Es ist der einzige Missgriff in einem ansonsten umjubelten Konzert, das diesmal vielleicht nicht so sehr den Kopf fordert. Aber das Herz streichelt.
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