Matthias Brandt und Jens Thomas: Wahn oder Methode?

Das Grauen berührt, bewegt und begeistert: Wenn Matthias Brandt und Jens Thomas im Rahmen der Reihe „Quatsch keine Oper“ nach Bonn kommen, steht am Boeselagerhof ein eindringlicher Abend bevor, eine Veranstaltung zwischen Wahn und Sinn, hypnotisch und aufregend zugleich. Seit das Duo vor zehn Jahren erstmals mit ihrer Lesung zu „Psycho“ das Publikum in seinen Bann gezogen hat, können Brandt und Thomas im Grunde alles machen und dürfen sich über ein ausverkauftes Haus freuen. Die Intensität eines der derzeit besten deutschen Schauspieler gepaart mit den wilden Klangvorstellungen eines irren Tastenzauberers ist nun einmal einzigartig, und so überrascht es nicht, dass auch knapp zwei Wochen vor Rosenmontag die Oper restlos ausverkauft ist. Dabei haben sich Brandt und Thomas sogar dafür entscheiden, aus dem neuen Programm ein Geheimnis zu machen und im Vorfeld keinen einzigen Hinweis darauf zu geben, welche Geschichte diesmal vorgetragen wird. „Ehrlich gesagt haben wir das erst heute Vormittag konkretisiert“, gesteht Brandt zu Beginn – und steigt dann gemeinsam mit seinem musikalischen Kompagnon in die phantastische Novelle „Der Horla“ ein.

Der in Tagebuchform verfasste Text Guy de Maupassants, der einige Motive der Proto-Vampirliteratur aufgreift, dreht sich um ein unsichtbares Wesen (den Horla), das den Erzähler wie eine Art Inkubus heimsucht, ihm nach und nach die Lebenskraft aussaugt und ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn treibt. Immer stärker wird die Kontrolle des Horla über sein Opfer, der seine Schwäche zunächst noch mit der Ratio zu erklären versucht und allerlei Experimente durchführt, die ihn aber immer mehr davon überzeugen, dass die Ursache für die ihn bedrängenden Phänomene übernatürlicher Art sein muss. Die Qual des Erzählers, die ein Kernthema Maupassants ist, wächst stetig und entreißt ihn sowohl der Schönheit der Natur als auch des pulsierenden Lebens der Metropolen. Immer tiefer gerät der zunehmend vereinsamende Erzähler in den Strudel des Wahnsinns, der ihn  zuerst zu einem Brand und schließlich zu einem Suizid verleitet – und immer atemloser wird auch die Lesung Brandts, der den zunehmend kurzen und fragmentarischen Sätzen ein Leben einhaucht, so wie nur er das kann.

Brandt und Thomas haben sich in den vergangenen Jahren den Ruf erarbeitet, in ihren Lesungen tief in die menschliche Psyche vorzustoßen und ihr Publikum mit auf die Reise in die Schatten zu nehmen. Sie haben den Schrecken von „Die Vögel“ erlebbar gemacht, haben Norman Bates („Psycho“) fast schon sympathisch erscheinen lassen und den unterschwelligen Horror der „Bergwerke von Falun“ herausgearbeitet, der die Grenzen zwischen Realität und Phantasmagorie verschwimmen lässt. Bei „Der Horla“ schenken sie sich in diesem Bereich nichts: Brandt lässt sich vollkommen auf Maupassants gehetzten Staccato-Stil ein und diesen das Tempo bestimmen, statt mit künstlicher Emphase eigene Vorstellungen durchzudrücken, was nicht nur eine Verbeugung vor Text und Autor darstellt, sondern auch ein Vertrauensbeweis auf die Macht der Worte, die auch nach fast 140 Jahren nichts an ihrer Intensität verloren haben. Und Jens Thomas? Der ist natürlich wieder völlig außer Rand und Band, zähneklappernd, zischend, fauchend, stotternd, krächzend und jaulend, mal wie ein Derwisch über die Tasten jagend und dann wieder auf französisch singend oder kaum hörbare Halbsätze in Dauerschleife wispernd, was irgendwie an den buckligen Salvatore aus „Der Name der Rose“ erinnert. Wo Brandt sich zurückhält, geht Thomas aus sich heraus, als Genie selbst dem Wahn verfallend und so einen Soundtrack schaffend, der passender kaum sein könnte. Kein Wunder also, dass das Publikum nach etwa 80 Minuten überwältigt ist und dem kongenialen Duo tosenden Applaus spendet.

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