„Nora oder Das Puppenhaus“: Komische Vögel

Die Familie geht über alles. Alles andere hat Nora, die Hauptfigur von Henrik Ibsens gleichnamigem Drama (im norwegischen Original „Et dukkehjem“, übersetzt „Das Puppenhaus“), diesem Diktat untergeordnet. Ihre gesamte Existenz dreht sich um ihre Kinder und um ihren Mann Torvald, für den sie vor Jahren sogar die Unterschrift ihres Vaters auf einem Schuldschein gefälscht hat, um von dem windigen Anwalt Krogstad Geld für eine lebensnotwendige Erholungsreise nach Italien zu erhalten. Doch zu Beginn der Handlung droht dieses Geheimnis durch einen Erpressungsversuch Krogstads aufzufliegen. Gleichzeitig beginnt Nora, sich nach persönlicher Freiheit zu sehnen, will ausbrechen aus den Zwängen und Konventionen einer konservativen, patriarchalisch geprägten Gesellschaft, in der sie nicht mehr als ein Vogel mit gestutzten Flügeln ist. Eine volatile Kombination, die Ibsens Stück zu einem Klassiker und die Rolle der Nora Helmer zu einer der begehrtesten Frauenrollen im Theater macht. Nun hat sich die junge Regisseurin Charlotte Sprenger im Theater Bonn des Stoffes angenommen – und ihn im Schauspielhaus in eine peinliche Farce verwandelt, die weder dem Thema noch dem Text auch nur ansatzweise gerecht wird.

Dass im Haus der Helmers alles andere als eine Idylle vorherrscht, wird von der ersten Sekunde an deutlich. Die beiden Kinder Emmy (Lena Geyer) und Ivar (Jacob Z. Eckstein) kommen als psychopathisches Geschwister-Pärchen mit unterdrückten Gewaltfantasien daher, das mit Messer und Axt bewaffnet auch aus Steven Kings „Shining“ entsprungen sein könnte. Derweil haben die Eltern mechanischen, leidenschaftslosen Sex im Badezimmer, begleitet von Frank Sinatras „Love and Marriage“ – der Verweis auf die Sitcom „Eine schrecklich nette Familie“ (einschließlich des eingespielten Publikumsgelächters) um den desillusionierten Versager Al Bundy, der Frau und Kinder als das größte Übel seines Lebens ansieht, ist hier offensichtlich. Nur geht das Konzept schon deshalb nicht auf, weil Torvald eben kein scheiternder Schuhverkäufer ist, sondern ein erfolgreicher, gerade erst zum Direktor beförderter Bankangestellter, den Sören Wunderlich denn auch ohne jede Spur von Humor und mit nur leichter Überzeichnung spielt.

Und dann wäre da natürlich noch Nora (Sophie Basse), eine Frau, die zu Beginn mitunter kindisch wirkt und im nächsten Moment zornig, eine labile Gestalt ohne Kurs. Vor allem aber ist sie eine Figur, deren Essenz mit denen des eigentlichen Textes nichts gemein hat. Ibsens Nora ist eine Leidende: Eine Frau, die sich aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungen, den damals herrschenden Zwängen der Ehe und ihres eigenen Geheimnisses wie in einem Käfig fühlt, aus dem sie nur entkommen kann, indem sie alles aufgibt, was ihr etwas bedeutet: Ihre Familie, für die sie sich jahrelang aufgeopfert hat und über die sie sich letztlich definiert. Ihre persönliche Freiheit geht somit einher mit ihrer größten Niederlage und zugleich mit der Erkenntnis, dass sie all die Zeit lang eine Lüge gelebt hat. Und sie hat keine andere Wahl, als all das hinter sich zu lassen, ihre Kinder, ihre vermeintliche Liebe und ihr eigenes Leben, um neu anzufangen. Dieser Schritt ist schmerzhaft, fast schon zerstörerisch, aber nur dadurch hat Ibsens Nora eine Zukunft. Die Bad Godesberger Nora ist dagegen eine Wütende, eine Rasende, eine Tobende – aber sie leidet nicht! Wie auch, wird sie doch mitunter sogar von ihren Kindern unterstützt, die allerdings ebenso wenig wie alle anderen Figuren einer klaren Linie folgen und jegliche Funktion vermissen lassen. Warum sie zwischenzeitlich mit ihrem Vater und dem sterbenden Doktor Rank (Christian Czeremnych), der als schmieriger, Nora begehrender Austin-Powers-Verschnitt anfangs geradezu in die Vaterrolle zu drängen versucht (auch das hat mit Ibsens Charakterzeichnung nichts zu tun), auf die Jagd gehen und wild um sich schießen, erschließt sich ebenso wenig wie ihre Wandlung vom Psycho-Paar zu geradezu belanglosen Gestalten, die offenbar nur noch als Statisten für ein katastrophale Kostümfest benötigt werden. Die letztgenannte Szene ist übrigens neben einem Monolog Noras mit burschikos-rheinischem Zungenschlag einer der Tiefpunkte der gesamten Inszenierung, voller herumzappelnder Gespenster und bar jeglicher Relevanz.

Letztlich scheitert Charlotte Sprenger mit ihrer Inszenierung auf ganzer Linie. Dabei hatten einige Ideen durchaus Potenzial, zumal die schöne Bühne und insbesondere die Aussparungen an der Rückwand in Form von ineinander verflochtenen Eheringen viel Raum bietet, um alle möglichen Beziehungskonstellationen zu realisieren. Dafür hätte es aber einer klaren Linienführung bedurft, die gerade bei der gewählten Form essentiell ist. Ibsens Drama ist ohne Frage stark genug, auch eine Verwandlung zur Groteske zu überstehen – wenn denn die Balance zwischen ernster Tragik und gnadenloser Überzeichnung gewahrt würde. In Bonn gelingt dies nicht. Ganz im Gegenteil: Hier wird „Nora“ zur Farce, die Inszenierung eine Verballhornung all dessen, wofür das Stück eigentlich steht. Auch das darf Theater. Aber dann sollte es auch ehrlich sein und genau das ankündigen. Wer dagegen Ibsen auf den Spielplan schreibt wäre gut beraten, auch Ibsen zu spielen und ihn nicht mit Ansage gegen die Wand zu fahren.

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