Wenn es nach Hans-Dieter Schütt geht, ist Gregor Gysi eine Lichtgestalt. Er, „einer der glaubwürdigsten Politiker Deutschlands“, habe demnach eigenhändig zuerst die Menschen in der ehemaligen DDR und dann die heutige Linke gerettet, indem er sich zum Anwalt der Massen gemacht hat, zum stolzen Ritter in tiefroter Rüstung. Nun war Gysi – mit Schütt als Stichwortgeber – ins Bonner Pantheon gekommen um über sich und sein Werk zu sprechen, über sein politisches Erbe und über die volatile Situation in Deutschland und der ganzen Welt. Was durchaus spannend war. Zumindest mit ein bisschen Distanz.
Es steht außer Frage, dass Gysi viel für Deutschland und die ihn ihm lebenden Menschen bewegt hat. Ohne ihn würde es wahrscheinlich keine linken Positionen im Bundestag gegeben, und so mancher
Politiker dürfte sich bei seinen detailtreuen Fragen zumindest innerlich ganz schön gewunden haben. Der 76-Jährige ist ein scharfsinniger Analytiker, ein exzellenter Rhetoriker und ein Mann, der
mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. Aber er ist auch jemand, der nur zu gerne Fragen ignoriert, die nicht in sein Redekonzept passen, und das wiederum scheint in erster Linie darauf
ausgelegt zu sein, ihn gut aussehen zu lassen. Zumindest in diesem Aspekt unterscheidet er sich nicht von anderen Politikern. Dabei hilft ihm, dass Schütt, ehemals Chefredakteur des ehemaligen
FDJ-Zentralorgans „Kinge Welt“ und überzeugter Linker, auf kritische Fragen zum Leben und Wirken Gysis verzichtet. So wird der nach derzeitigem Stand unhaltbare Vorwurf, Gysi habe einst als
Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet, völlig ausgespart, ebenfalls wie Nachfragen zu einer konkreten Umsetzung der von Gysi erhobenen fünf Kernforderungen zu einer linken
Realpolitik. Als Journalist hätte Schütt hier nachhaken müssen, zumal er selbst die Hexenjagd ins Spiel brachte, die Gysi und die Linken zumindest während der Bonner Jahre erdulden mussten und an
die dieser sich durchaus noch erinnert – ebenso wie an den Supermarkt, der nur für ihn Spreewaldgurken ins Sortiment aufnahm, und an lange Abende in der Kneipe „Die Kerze“.
Hauptsächlich sprach Gysi aber über die Untiefen des Politikbetriebs, über das Erstarken der AfD vor allem im Osten und über die Schwächen der eigenen Partei, die durch die Streichung der
Drei-Direktmandatsregelung bei der nächsten Bundestagswahl große Probleme bekommen könnte. Ebenso übrigens wie die CSU und die FDP. All diese Parteien könnten dann an der Fünfprozenthürde
scheitern und ohne Direktmandate im neuen Bundestag nicht mehr vertreten sein. „Dadurch würde die gesellschaftspolitische Diskussion viel verlieren, und das will ich nicht“, sagt er und begründet
damit seine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht sowie seine Überlegung, vielleicht doch noch mal anzutreten, obwohl er der Linken kein gutes Zeugnis ausstellt. „Bei uns herrscht so eine
Selbstbeschäftigung“, klagt er. „Andererseits interessieren mich nur Menschen, Vereinigungen oder Institutionen vor allem dann, wenn sie Probleme haben. Das ist der Anwalt in mir, der auch immer
nur dann gebraucht wird, wenn etwas nicht in Ordnung ist.“ Und vor allem die Menschen kann und will er nicht im Stich lasten.
Der Ursprung der derzeitigen Unzufriedenheit mit dem politischen System in Deutschland liegt laut Gysi übrigens unter anderem in einer missglückten Wiedervereinigung begründet. „“Eine Regierung,
die so etwas organisiert, muss dafür sorgen, dass ALLE Beteiligten ein Erfolgserlebnis haben“, erklärte er. „Stattdessen sah die BRD im Osten nur die Stasi und die Mauertoten“, und die hatte man
damals zu Recht nicht übernehmen wollen. „Wir hatten aber auch Polikliniken, eine Berufsausbildung mit Abitur und einige sehr gute Elemente in der Schulbildung, die Gesamtdeutschland damals
durchaus geholfen hätten.“ Aber alle seien so überzeugt von der Überlegenheit des Westens gewesen, dass die gesamte ostdeutsche Lebensart gestrichen wurde. Kein Wunder, dass dies bis heute zu
Unmut führt. Hinzu käme, dass immer viel versprochen und wenig gehalten würde, und dass diejenigen mit den größten oder lautesten Ideen die meisten Bürgerinnen und Bürger mobilisieren kann. „Wir
wählen leider nicht Realitäten, sondern unsere Wünsche“, fasst Gysi dies zusammen. Und darauf verstehen sich die Rechtspopulisten nun einmal hervorragend, die in den vergangenen Jahren überall in
Europa erschienen sind. „Dieser Rechtsruck macht mir durchaus Sorge“, sagt Gysi, „auch wenn es auf der anderen Seite Mut macht zu sehen, wie viele Menschen in den vergangenen Tagen in Deutschland
gegen die AfD auf die Straße gegangen sind.“ Jetzt müssten nur noch die etablierten Parteien zeigen, dass sie die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger auch bedienen können. „Das Problem ist
nur, dass alle sich anschauen, was die AfD macht, statt zu überlegen, was sie selbst falsch gemacht haben.“
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