„Woyzeck“: Brillant und blutarm zugleich

Zum zweiten Mal innerhalb einer Spielzeit steht in Bonn der „Woyzeck“ auf dem Spielplan: Nach einer gewagten Hinterhof-Inszenierung des Euro Theater Central, das den soziokulturellen Kontext der sich für Frau und Kind abschuftenden Hauptfigur in den Mittelpunkt stellt, konzentriert sich jetzt das Theater Bonn auf die zunehmend bröckelnde Psyche des Getriebenen. Ein überaus reizvolles Konzept mit vielen überzeugenden Ansätzen und einem brillanten Einsatz der technischen Möglichkeiten eines großen Hauses. Dennoch wirkt das Stück, das am vergangenen Freitag im Schauspiel Bad Godesberg Premiere hatte, in weiten Teilen blutarm und blass, ohne Spannung – und zumindest zum Teil ohne überzeugende Charakterzeichnungen.

Explizit ausgenommen ist dabei Paul Michael Stiehler, der den zunehmend hektischen und wahnhaften Soldaten Woyzeck mit viel Liebe fürs Detail spielt. Seine Figur ist ein Opfer des Systems, ein Mann, der sich in einem grauen Containerdorf für ein paar Groschen von Obrigkeit und Wissenschaft gleichermaßen zum Tier degradieren lässt. Für die namenlose Ärztin (Julia Kathinka Philippi), die ihn auf eine reine Erbsen-Diät gesetzt hat (übrigens ein Experiment, dass der Chemiker Justus von Liebig um 1833 tatsächlich durchführte) und die ihn mit Schnipsen kontrolliert, ist er nicht mehr als ein Versuchskaninchen; für seinen Hauptmann (Alois Reinhart) ist er ein gehorsamer Hund, der auf Pfeifsignale dressiert worden ist und der in den Augen seines Vorgesetzten zwar ein guter, aber kein tugendhafter Mensch ist. Wie auch – Moral, so der Tenor von „Woyzeck“, muss man sich leisten können. Diese Zerrissenheit setzt Stiehler souverän um, doch leider darf Reinharts Hauptmann gleichzeitig nicht viel mehr als Dienst nach Vorschrift machen, ist zu glatt, zu brav, zu beliebig, um als Gegenpol zu fungieren. Ohnehin bleiben die Nebenfiguren ebenso sehr Fragment wie der gesamte Text, ohne Substanz und ohne klare Kanten. Am deutlichsten wird dies bei Andres (Riccardo Ferreira), dem einzigen Freund Woyzecks, der in dieser Inszenierung nur als (Papp-)Kamerad in Erscheinung tritt und außer einem zackigen Militärschritt nichts zu bieten hat.

Angesichts dieser fehlenden Konturen stellt sich die Frage, was die technisch beeindruckende, dramaturgisch aber viel zu vorsichtige Inszenierung eigentlich sagen und zeigen will. Der zunehmende Wahn Woyzecks, der durch geschickt eingesetzte Videosequenzen eindrucksvoll untermalt wird, reicht nicht aus, um das Stück über die gesamten 100 Minuten zu tragen, und die zweite essentielle Ebene des Textes, die Entfremdung zwischen Woyzeck und seiner Geliebten Marie (Sandrine Zenner), fällt leider durch die Setzung dieser Figur in sich zusammen. Statt als weiteres Opfer der gesellschaftlichen Umstände ist Marie in Kurzes Interpretation eine brüske, beinahe schon aggressive Täterin, die Woyzeck beschimpft, das gemeinsame Kind vernachlässigt und sich dem Hauptmann willig an den Hals wirft, nicht für ihren Sohn oder gar für die Familie, sondern aus reinem Eigennutz. „Ich bin ein Armmensch“, sagt sie, und „ich bin ein Schlechtmensch.“ Und genau das ist das Problem. Denn der von Woyzeck begangene Mord an ihr erhält somit eine Rechtfertigung, verliert aber gleichzeitig seine Tragik. Mehr noch: Die blutige Tat ist noch lange nicht das Ende, ist weder das emotionale Finale noch ein kathartischer Moment.

 

Stattdessen erweitert Regisseurin Kurze den Stoff um Gedanken aus „Datons Tod“ und um Büchners wohl berühmtestes Zitat „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ aus dem „Hessischen Landboten“ – letzteres wird sogar als Flugblatt durch die Reihen gereicht, um diesen Aufruf dem Publikum gewissermaßen in den Rachen zu rammen. Woyzeck ist in diesem Moment vergessen, zumal nicht er diesen Ruf aufgreift, um seine Peiniger ebenfalls ins Jenseits zu schicken, sondern ausgerechnet die laute Marktfrau Margret (Birte Schrein), eigentlich die unwichtigste Figur im Personengefüge. Sie erschießt sowohl den Hauptmann als auch die Ärztin, ironischerweise mit einer Waffe, die Woyzeck zuvor für die eigene Tat kaufen wollte. Nur konnte er sie sich nicht leisten. Selbst ein Mord ist also eine Frage des Geldbeutels. Auf jeden Fall wird die aus der Verzweiflung geborene Rache des armen Soldaten, der einzige aktive Akt eines zutiefst Gedemütigten, durch Margrets Doppelmord in den Schatten gestellt und damit endgültig entwertet. Und so hängt am Ende alles in der Luft, Woyzeck ebenso wie „Woyzeck“. Beide hätten mehr verdient.

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