Colosseum: Musik für die Lebenden und die Toten

Ab einer gewissen Brillanz ist das Alter für Musiker offenbar zweitrangig. Wer will schon Keith Richards und Mick Jagger sagen, dass sie so langsam mal kürzer treten sollen? Wer will dies Chris Farlowe und den anderen Herrschaften von Colosseum raten, vor allem nachdem die legendäre Jazzrock-Formastion in der Harmonie eindrucksvoll bewiesen hat, dass sie noch immer zu dem Besten gehört, was dieses Genre zu bieten hat? Ja, Farlowe ist schon 82, Gitarrist Clem Clempson und Bassist Mark Clarke haben zumindest die 70 schon überschritten, aber das hindert sie nicht daran, ein atemberaubendes Feuerwerk abzufeuern, mit ebenso starken wie komplexen Songs, herausragenden Soli und einer Spielfreude, die ihresgleichen sucht. Und auch wenn die Band in den vergangenen Jahren herbe Verluste verkraften musste, zeigt sie sich in Bonn doch so stark wie eh und je.

Lange haben Farlowe, Clempson und Clarke überlegt, ob und wenn ja wie sie weitermachen können, nachdem 2018 Colosseum-Gründungsmitglied und Schlagzeug-Ikone Jon Hiseman nur wenige Wochen nach seinem letzten Auftritt in Bonn verstarb (vor wenigen Monaten folgte ihm zudem seine Frau, die fabelhafte Saxofonistin Barbara Thompson). Andererseits hatte man musikalisch noch etwas zu sagen, und so präsentieren sich nun – anlässlich der Tour zu dem in diesem Jahr erschienenen Album „Restoration“ – Keyboarder Nick Steed, der Ex-Gentle-Giant-Drummer Malcolm Mortimore und Saxofonist Kim Nishikawara als neue Bandmitglieder. Eine phänomenale Besetzung: Steed haut mitunter wie ein Wahnsinniger wahlweise in oder auf die Tasten, Mortimore sammelt Rhythmuswechsel so wie andere Menschen Briefmarken und Nishikawara zaubert ein ekstatisches Solo nach dem nächsten aus seinem Instrument. Die alten Veteranen lassen sich davon nur zu gerne anstacheln: Farlowe röhrt wie eh und je Rock und Blues mit unvergleichlicher Wucht aus seiner mächtigen Brust, Clarke zeigt sich gewohnt virtuos am Bass und überaus gefühlvoll am Mikrofon, und Clempson zeigt mit spektakulären Läufen immer wieder, warum er zumindest unter Gitarristen einen hervorragenden Ruf genießt.

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Höhepunkt des Abends ist ohne Zweifel die epische „Valentyne Suite“, die Colosseum Hiseman und Thompson widmen und bei der das gesamte Spektrum der Band offenbar wird. Fast schon barock anmutende Passagen treffen auf Progressive Rock, wie ihn selbst Deep Purple oder Led Zeppelin nicht besser hinbekommen hätten; ständig wechselnde rhythmische Verschiebungen unterstreichen derweil die Nähe zum Jazz und sorgen dafür, dass in dem 15-Minüter zu irgendeinem Zeitpunkt so etwas wie Langeweile aufkommt. Ganz im Gegenteil gibt es immer wieder Neues zu entdecken, auch heute noch, nach 53 Jahren. Das ist ganz große Kunst. Erfreulicherweise können sich aber auch die neuen Stücke mit diesem musikalischen Leviathan messen, ob es nun das druckvolle „First in Line“ ist oder „Story of the Blues“, bei dem vor allem Chris Farlowe mit seinem unvergleichlichen Gespür für die Schattierungen des Zwölftakters glänzen kann. Nein, Colosseum ist noch lange nicht am Ende. Zum Glück.

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