„Aufstieg & Fall der Stadt Mahagonny“: Nach uns die Sintflut

Alles ist erlaubt in Mahagonny. Die goldene Metropole des ultraliberalen Kapitalismus, in der jedes Bedürfnis befriedigt wird, so lange man es nur bezahlen kann, ist ein Sündenpfuhl ohne Regeln und der feuchte Traum eines jeden vergnügungssüchtigen Egoisten, in dem man sich hemmungslos der Völlerei hingeben kann, der Lust und der Gewalt. Eine aktuelle Gesellschaftskritik mit dieser urbanen Dystopie von Bertolt Brecht und Kurt Weill zu verknüpfen, ist angesichts zunehmender extremistischer Tendenzen ein Leichtes – doch Regisseur Volker Lösch geht in seiner Inszenierung in der Bonner Oper noch einen Schritt weiter, indem er Parallelen zwischen „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und der Flutkatastrophe an der Ahr zieht. Ein Vergleich, der nicht nur hinkt, sondern kategorisch stolpert, vor allem da Lösch zu konkret wird. Und zu persönlich.

Schon zum Auftakt instrumentalisiert der Theaterregisseur, der in der Bundesstadt schon häufiger mit Recherche-Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat („Waffenschweine“, „Bonnopoly“), die Opfer der Ahr. Augenzeugen erzählen von den ersten Stunden der Flut, vom Lärm der Wassermassen und von den Zerstörungen, die sie hinterließen. Dann erst – nach einer Autoflucht-Videosequenz im Stil der 60er Jahre – hebt sich der Vorhang und gibt den Blick auf das Rund bei, das zu Mahagonny werden soll. Drei Ganoven gründen die Stadt als Vergnügungsmetropole mitten im Nirgendwo, aber auf direkter Linie zwischen den Gold-Claims und den riesigen Wäldern Alaskas einerseits und der Küste als Zugang zum weltweiten Handelsnetz andererseits. Hierhin zieht es auch den Holzfäller Jim Mahoney, der sich in die Prostituierte Jenny verliebt. Doch als Mahagonny spießig und bieder zu werden droht, will Jim weg. Ein Hurrikan verhindert seine Abreise, und im Angesicht der Katastrophe fordert er die Aufhebung aller Verbote, denn wenn ohnehin alles endet, dann braucht es auch keine Regeln mehr. So wird Mahagonny, die im letzten Moment von dem Unwetter verschont wird, zum Sündenpfuhl, zu Sodom und Gomorrha, einer Metropole der Anarchie, in der alles erlaubt ist. Dann aber kann ausgerechnet Jim seine Zeche nicht mehr bezahlen; das schlimmste aller Vergehen in einer Stadt, in der das Geld regiert. Dafür wird er zum Tode verurteilt.

Weills „Mahagonny“-Oper (streng genommen eine Anti-Oper, die alle dramaturgischen und musikalischen Gepflogenheiten dieser beim Bildungsbürgertum so beliebten Kunstform karikiert) ist schon in ihrer Urform als eindeutige Kritik am Kapitalismus in seiner schlimmsten Form zu verstehen – insofern ist eine Aktualisierung durchaus sinnvoll und ein Verweis auf die heutige Lebensweise, die sich für einen nachhaltigen Klimawandel maßgeblich ändern müsste, ebenfalls zulässig. „Wir sind Mahagonny“, diese Erkenntnis soll laut Dramaturg Stefan Schnabel durch die Inszenierung klargemacht werden, und wenn Bilder von einer entfesselten Naturgewalt die fleischlichen Exzesse begleiten, macht dies durchaus Eindruck. Doch lässt sich diese Parallelität nicht auf einzelne Regionen herunterbrechen, und schon gar nicht auf einzelne Personen, was aber durch die Setzung mit den Video-Einspielern unweigerlich geschieht. Immerhin werden in den Reportage-Aufzeichnungen aus dem Ahrtal Opfer gezeigt, und die sind in Mahagonny nun einmal Mangelware: Lediglich drei Männer müssen einschließlich Jim Mahoney ihr Leben lassen, die zudem alle das System mit geschaffen haben, an dem sie nun (teils sogar freiwillig) zugrunde gehen. Keiner von ihnen kann für die einzelnen oder kollektiven Bewohner des Ahrtals stehen. Und das System Mahagonny? Kann ein konkretes, aber eben auch fiktives dystopisches Gesellschaftsmodell herangezogen werden, um diese oder eine künftige Flut zu erklären? Lösch versucht es, indem er in die Zukunft blickt, indem er anprangert oder anprangern lässt, dass die Menschen wieder zurück wollen in ihr altes Leben, dass es kein Umdenken gibt und dass die nächste Katastrophe jederzeit kommen kann. „Wir müssen aus diesen Erfahrungen Konsequenzen ziehen“, sagt eine Zeitzeugin am Ende der Premiere auf der Bühne der Bonner Oper. „Wir aus dem Ahrtal sind jetzt verantwortlicher, als wir es vorher waren. Und es ist verantwortungslos, so weiter zu leben wie bisher.“ Wenn jedoch als Konsequenz plakativ mehr Verbote gefordert werden, um der Mahagonnisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken und der einzige Politiker in den Videos „die Konservativen“ als Blockierer hinstellt, ist das Stück offenbar nicht verstanden worden. Aufgezwungene Einschränkungen und einseitige Anschuldigungen können nicht die Antwort auf eine Welt sein, in der das Ego zählt. Das geht nur mit Gemeinschaft, mit Solidarität, mit Einigkeit. Auch das war während der Ahr-Katastrophe spürbar. Lösch zeigt davon nichts.

Zum Schluss noch ein paar Worte zu Orchester, Chor und Ensemble: Ersteres erweist sich unter der Leitung von Dirk Kaftan auf höchstem Niveau und setzt die vielfältige, komplexe Musik Weills bravourös um, während der Chor mitunter mit der Textverteilung zu kämpfen hat, ansonsten aber durchaus druckvoll agiert. Matthias Klink gibt den Jim Mahoney mit viel Verve und brillanten Wechseln zwischen Sprech- und Gesangspassagen, was leider nicht allen Darstellern gelingt. Gut auch Mark Morouse als Sparbüchsenbill und Susanne Blattert als Leokadja Begbick, während Natalie Karl als Jenny Hill mitunter ein wenig unterzugehen droht. Da helfen auch die Video-Einspieler nicht, die immer wieder den Fokus vom Ensemble wegbewegen und eine Charakterentwicklung erschweren. So verständlich also Löschs grundsätzlicher Ansatz auch ist, wäre es doch besser gewesen, die aktuellen Bezüge auf der Bühne zu verhandeln und nicht davor. Damit hätte er sich und dem Ensemble einen Gefallen getan. Und dem Ahrtal erst recht.

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