„Viel Gut Essen“: Der Traum geht weiter

Das Euro Theater Central ist wieder da. Mit dem Sybille-Berg-Monolog „Viel Gut Essen“ feiert das Haus nach gut zwei Jahren ohne feste Spielstätte in der Budapester Straße seine Auferstehung – und stellt sofort unter Beweis, dass zwar vieles neu, der Geist auf und hinter der Bühne aber so eigenwillig wie immer ist. Normal, das kann schließlich jeder. Auf Sicherheit setzen auch. Den Neustart aber in die Hände eines Duos zu legen, das zuvor noch nie im Euro Theater gespielt hat, erfordert ein ganz besonderes Vertrauen. Ein Vertrauen, das sich bezahlt gemacht hat: Eine so schräge, so wirre, so wahnsinnige Inszenierung wie die von Daniel Breitfelder und Sebastian Kreyer hätte sich Sybille Berg selbst in ihren verworrendsten Phantasmagorien nicht träumen lassen, zumal ihr Text nur den Ausgangspunkt für eine gnadenlos überdrehte und doch eindringliche Liebeserklärung an das Theater an sich ist, in dem alles möglich ist. Wenn man sich nur traut.

Natürlich spielt die immer noch nicht gänzlich überstandene Corona-Pandemie eine Rolle für die Genese der Aufführung, sogar eine ganz zentrale. Wie kann man in diesen Zeiten überhaupt inszenieren, wenn die Häuser dicht sind, die Schauspieler in Quarantäne und das Bühnenbild nur eine leere Leinwand? Wie kann Theater ohne Begegnungen entstehen, ohne das Spiel mit Distanz und Nähe, ohne ein atmendes, mitfühlendes, sich erregendes Publikum und ohne die Unmittelbarkeit zwischen Gezeigtem und Erlebtem? Diese Fragen haben sich Kreyer und Breitfelder gestellt und „Viel Gut Essen“ einen entsprechenden Rahmen gegeben. Auftritt Manu Glatt (Daniel Breitfelder), mehrfach gescheiterte Regisseurin mit absonderlichen Vorstellungen und einem teils sehr kruden Humor. Sie will den Stoff auf die Bühne bringen, irgendwie – aber mit wem? Mit anbiedernden Jungschauspielern oder mit vermeintlichen Profis, die sich in einem Streaming-Casting bewerben? Und wofür? Für eine Rolle, die im vermeintlichen Mainstream verortet ist, für eine Figur – männlich, weiß, mittleres Alter –, die in ihrer Normalität zum Wutbürger mutiert? Geht das überhaupt, gerade jetzt? Und will man das?

Die Antwort von Kreyer und Breitfelder ist eindeutig. Nein! Will man nicht. Und so setzen sie der Normalität alles entgegen, was sie aufbringen können. Und das ist viel. Sehr viel. Schräge Charaktere und peinliche Pointen, Satire und Grotesken, Collagen und Videoschnipsel, Nashorn-Masken und Langhaar-Perrücken, Musical-Einlagen und ein Zwei-Personen-Chor mit zwei Dutzend Stimmen, all das werfen sie genüsslich ins Getriebe der Echauffierungsmaschinerie, dekonstruieren den Berg-Monolog und setzen dem „Normalbürger“ das regenbogenfarbene Chaos der Kunst entgegen. „Normal ist eine Heimat, ist das, was wir alle brauchen“, sagt eine sonore Stimme in einem eingespielten Video-Clip. Es handelt sich um einen Werbespot der AfD. „Vielfalt ist das, was wir brauchen“, kontern Kreyer und Breitfelder mit ihrer Inszenierung. Und Vielfalt entsteht im Theater. Das ist das Kondensat von 75 Minuten, die verrückter und absurder kaum sein könnten. Mit Erfolg. Am Ende bleibt schließlich nur ein Satz von Sibylle Berg auf der Bühne zurück, das letzte Aufbäumen der vereinnahmenden Kraft der Normalität: „Wir gewöhnen uns an alles.“ Die Antwort darauf bleiben Kreyer und Breitfelder schuldig. Vermutlich aber würde sie lauten: „Hoffentlich nicht“.

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