Zuerst sind sie Nummern, dann Flüsse. Fünf Menschen, die sich wie 15 andere auch mit Hilfe des Videokonferenztools Zoom für das Projekt „Map to Utopia“ des Fringe Ensembles angemeldet haben, die bis auf ihre Gesichter anonym bleiben und die nach und nach in die Rollen schlüpfen, die ihnen zugewiesen worden sind. Ja, aktives Theater statt passiver Rezeption ist bei diesem Konzept des Theaters im Ballsaal unabdingbar, aber auch ungeheuer reizvoll, wie die Teilnehmer bei der Premiere unter Beweis stellen. Schnell sitzen die Alter Egos wie eine zweite Haut: Nil ist gemäß der fiktiven Biographie ein alternder Handtaschenverkäufer, Mekong ein junger Mann aus Ghana, Wolga eine charmante Lehrerin. Sie alle leben in einem Viertel einer namenlosen Stadt, sie alle haben ihre großen und kleinen Probleme mit der soziokulturellen Entwicklung ihrer Nachbarschaft – und sie alle lernen sich in der virtuellen Welt unweigerlich kennen. Es ist ein Rollenspiel der besonderen Art, eines, das keinem bestimmten Ziel dient außer dem Diskurs zwischen Fremden und das so den urbanen Raum gestalten will. Was nicht ganz funktioniert. Aber sich dennoch lohnt.
Während die Besucher in der virtuellen Welt in ihre Rollen schlüpfen, bleiben die Besucher des realen Theaters sie selbst, abgesehen von einem Namensschild und einer einheitlichen
Berufsbezeichnung. Sie alle sollen jetzt Stadtplaner sein, sollen sich die Sorgen der Bewohner anhören und in Kleingruppen Ideen entwickeln, um das Leben im Viertel zu verbessern. Konkret kann
man dabei allerdings nicht werden, dafür fehlen sowohl die Zeit als auch die Details. Große Pläne sind schnell verabschiedet, doch die bürokratischen und strukturellen Hürden, die derartige
Vorhaben in der realen Welt oft be- oder gar verhindern, fehlen in diesem Szenario. Auch gibt es keine Konflikte mit den Bewohnern, keine Widerstände gegen Bauvorhaben von Denkmalschützern oder
Nachbarn, die sich gestört fühlen könnten. Alle wollen an einem Strang ziehen. Und vielleicht ist dies das eigentliche Utopia. Andererseits will die interaktive Performance auch gar keinen
Modellcharakter haben, will nicht die Herausforderungen des Städtebaus skizzieren – sondern will vielmehr Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Und das gelingt auf eine ganz besondere Art
und Weise.
Immer wieder müssen vor allem die Zoom-Teilnehmer aktiv werden, indem sie einem Moderator Rede und Antwort stehen oder indem sie in so genannten „Breakout Sessions“ mit anderen Figuren in Kontakt
treten. Zusätzliche Informationen erhalten sie über eine Smartphone-App, die sich jeder Teilnehmer herunterladen muss – für Technik-Verweigerer ist „Map to Utopia“ daher auch nicht geeignet.
Dafür werden die Rollen im Laufe von etwa anderthalb Stunden immer plastischer, die digitalen Bewohner immer gelöster, und auch im Theatersaal entstehen unter den „Stadtplanern“ angeregte
Diskussionen, die sogar noch nach dem offiziellen Ende fortgesetzt werden. In diesem Sinne hat die Immersion offenbar funktioniert.
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