Markus Gabriel: Fiktionen der Wirklichkeit

Im Grunde besteht unsere vermeintliche Wirklichkeit aus Geschichten. Die Welt ist ein Konstrukt unserer Erzählungen, durch diese begreifbar gemacht und in Modelle gepackt. Der Fantasy-Autor Terry Pratchett hat diese Theorie schon vor fast zwei Dekaden zusammen mit den beiden Naturwissenschaftlern Jack Cohen und Ian Stewart in eine literarische Form gegossen – nun liefert der Bonner Philosoph Markus Gabriel den dazugehörigen erkenntnistheoretischen Unterbau. In seinem neuen Werk „Fiktionen“ versucht er sich an einer Theorie des Scheins, um zu unterscheiden zwischen einer faktischen Wahrheit und dem, was jemand für wahr hält. Nun hat er das Buch bei einem Livestream des Literaturhauses Bonn erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

„Wenn man den Schleier entfernen will, der auf der Wahrheit liegt, sollte man sich diesen auch vielleicht einmal genau anschauen“, erklärt Gabriel seine Motivation, sich mit Formen der Falschheit zu beschäftigen, um dadurch die Wirklichkeit zu erkennen. Und wenn diese – oder das, was wir für sie halten – eben Gabriels Theorie zufolge ein narratives Geflecht darstellt, zusammengestückelt aus vom Menschen gemachten und daher zwangsweise eingeschränkten Modellen, ist dies nur konsequent. Auch die gegenwärtige Corona-Krise ist von zahlreichen Erzählungen durchdrungen: Da ist die Rede vom Krieg gegen den Virus, für den wir gar nicht der Feind sind, sondern vielmehr sein Habitat; da gilt der „virologische Imperativ“ als alternativlos, nur weil die durchaus existierenden Alternativen den Regierungen der westlichen Welt nicht gefallen; und alles wird mit Statistiken belegt, erstellt mit unvollständigen Daten und interpretiert mit einem subjektiven Blick. Werke der Fiktion, um mit Gabriel zu sprechen. „Statistik ist doch längst metaphysische Pornographie geworden“, so der 40-Jährige. Oder Angelsport. „Wir fangen mit unseren Modellen ja durchaus die großen Fische, aber dadurch erhalten wir doch kein Bild des Meeres.“

Dabei ist Gabriel als Verfechter eines neuen Realismus durchaus von der Existenz von Wahrheit und Wirklichkeit überzeugt. Die Bedrohung durch Covid-19 hält er zum Beispiel für wahr, ob Donald Trump und Jair Bolsonaro nun daran glauben oder nicht. Doch fehlt es oft an der nötigen Trennschärfe, ist der menschliche Blick getrübt aufgrund fehlender Informationen, die ohnehin nicht alle verarbeitet werden könnten. Dafür ist der menschliche Geist einfach nicht gemacht. Und so bleiben letztlich nur die Modelle, jene mathematischen Geschichten mit ihren fiktionalen Strukturen. Der unvollkommene Blick muss genügen – doch zugleich versucht Gabriel, das Primat der Naturwissenschaften zumindest ein wenig zu entkräften und der anthropologischen Zentralstellung der Einbildungskraft zu ihrem Recht zu verhelfen. Ein Balance-Akt. Und doch nur ein erster Schritt.

Natürlich kann Gabriel im Gespräch mit Moderator Thomas Fechner-Smarsly nur an der Oberfläche bleiben – schon so ist es nicht immer einfach, seinen Ausführungen zu folgen. Dabei hilft es nicht, dass der parallele Upload des Streams auf Youtube und Facebook mit massiven Aussetzern einhergeht. Erst als die Veranstalter die erstgenannte Plattform verlassen und sich nur noch auf die Social-Media-Plattform fokussieren, wird die Verbindung stabil. Beim nächsten Mal dürfte dieser Fehler nicht passieren.

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