Die Worte sind ihm abhanden gekommen. Die Worte, und noch schlimmer die Noten. Die Musik, die stets sein Leben war, erschließt sich Robert Schumann nicht mehr – es ist die schlimmste Folge der Syphilis, unter deren Ausbruch der Komponist in den letzten Jahren seines Lebens leidet. Ausgerechnet er, das große Genie der Romantik, versinkt in einer Irrenanstalt in Endenich unaufhaltsam im Wahnsinn, gepeinigt von Tönen in seinem Kopf, die nicht zu ihm sprechen und ihm so die Hölle auf Erden bereiten.
Diese geschundene Seele hat Peter Härtling 1996 in seinem Roman „Schumanns Schatten“ beschworen und ihr den Pfleger Tobias Klingelfeld zur Seite gestellt, der als Erzähler fungiert und der
gebrochenen Existenz mit Mitleid begegnet. Nun haben Schauspieler Matthias Brandt und Klangkünstler Jens Thomas aus dieser biographisch verzerrten, aber dennoch eindringlichen Geschichte eine
musikalische Lesung geschaffen, die unter die Haut geht. Mit ihrer „Krankenakte Schumann“ waren Sie nun auch in der Reihe „Quatsch keine Oper“ in Bonn zu erleben.
Zugegeben, ein wenig unausgewogen ist die Handlung des 90-minütigen Programms schon, zumindest wenn man Wert auf historische Genauigkeit legt – und gerade in der Bundesstadt, in der Schumann
einst seinen Lebensabend verbrachte, wird darauf natürlich durchaus Wert gelegt. So irritiert es durchaus, dass Schumann in den ausgewählten Passagen keine lichten Momente zugestanden werden. Im
Rahmen dieser Inszenierung ist er der gefallene Meister, all seiner Talente beraubt, ersetzt durch ein sabberndes Zerrbild mit entzündetem Auge, dessen Exkremente genauer betrachtet werden als
der Mann, der sie ausscheidet. Und ja, so mag es damals gewesen sein, in den schlimmen Phasen zwischen 1854 und 1856. Dass der historische Schumann allerdings durchaus auch klare Momente hatte,
Spaziergänge machen durfte, mit seinen Kindern und Verlegern korrespondierte und zumindest zeitweilig komponieren konnte, verschweigen Brandt und Thomas ebenso wie die Besuche von Freunden wie
Bettina von Arnim oder Johannes Brahms, die der Komponist in Endenich empfing. Es passt nicht ins Konzept, das ohnehin nur am Rande an Fakten interessiert ist, sondern vielmehr das Leiden eines
der ganz großen Künstler jener Zeit nachvollziehen will und dafür auf eine dreigeteilte Kraft vertraut, der sich keiner entziehen kann und die sich alles erlauben darf: Der poetischen Wucht Peter
Härtlings, dem musikalischen Wahnwitz Jens Thomas' und der sprachlichen Intensität Matthias Brandts.
Brandt und Thomas haben sich in den vergangenen Jahren ohnehin den Ruf erarbeitet, in ihren Lesungen tief in die menschliche Psyche vorzustoßen und ihr Publikum mit auf die Reise in die Schatten
zu nehmen. Sie haben den Schrecken von „Die Vögel“ erlebbar gemacht, haben Norman Bates („Psycho“) fast schon sympathisch erscheinen lassen und schließen nun mit der „Krankenakte Schumann“ auf
ähnlich hohem Niveau daran an. Phantastisch, wie sie die Sogwirkung der Textvorlage noch zu steigern wissen: Thomas erweist sich einmal mehr als virtuoser Pianist, der eindrucksvoll wüten kann
und im nächsten Moment überaus feinfühlig Schumann zitiert, während er gleichzeitig kichert und gackert, wispert und schreit, greint und zischt, die Personifikation all jener Stimmen, die der
Komponist in seinem Wahn zu hören glaubt und die in der Oper eine bemerkenswerte Geräuschkulisse entstehen lassen; und Brandt ist so großartig wie eh und je, sowohl Schumann als auch dem Pfleger
Klingelfeld verbunden, dessen Beschreibungen der Halluzinationen und Zornausbrüche seines Schützlings der 58-Jährige mitunter geradezu herauswürgen muss und die gerade dadurch eine besondere
Qualität erhalten. Am Ende ist das Publikum denn auch zu Recht erschlagen, erschöpft, erschüttert – und euphorisch angesichts einer Lesung, wie sie nur selten erlebt werden darf. Kein Wunder
also, dass das Erfolgsduo auch in Zukunft nach Bonn kommen wird. Ein Termin für 2021 ist nach Angaben von Organisatorin Rita Baus bereits in Planung.
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