Walter Sittler: Die allerletzte Zugabe

Dieter Hildebrandt war einzigartig. Ein brillanter Kabarettist, der mit scharfem Witz das Groteske in der Welt entlarvte, der sich über Zu- und Missstände wunderte und der diese bissig kommentierte. Vor sechs Jahren hat er sowohl die Bühne als auch das Leben verlassen – doch sein Werk wirkt weiter fort. Dank Walter Sittler. Der Schauspieler hat nicht nur auf Bitten von Hildebrandts Witwe dessen „Letzte Zugabe“ eingelesen, sondern sie inzwischen auch in ein Bühnenprogramm verwandelt, mit dem er bereits mehr als 75. Vorstellungen gegeben hat. Nun war der 66-Jährige auch im Rahmen von „Quatsch keine Oper“ in Bonn zu Gast und hat dabei etwas vollbracht, was selbst Sittler einst für unmöglich hielt: Er hat den Hildebrandt zumindest für zwei Stunden wieder auferstehen lassen und den Altmeister an einigen neuralgischen Stellen sogar vorsichtig aktualisiert. Eine Meisterleistung. Und ein Genuss.

Dabei sind es nur Kleinigkeiten, die Sittler in Hildebrandt verwandeln. Mal das Neigen des Kopfes, mal ein wacher Blick durch die aufgesetzte Brille (abgesehen von einer Kappe das einzige Requisit des Abends) und immer wieder dieser leicht stotternde Duktus, hinter dem sich ein überaus wacher Verstand verbirgt, der angesichts der Dummheit in der Welt über die eigenen Worte zu stolpern scheint. In manchen Momenten sieht man den Kabarettisten förmlich auf der Bühne stehen, wie er sie alle dekonstruiert und parodiert, Seehofer, Lindner, Dobrindt und einige von der alten Garde. Helmut Kohl lässt er „Der Mond ist aufgegangen“ rezitieren, Herbert Wehner eine ebenso fiktive wie feurige Abschiedsrede halten. „Ich hoffe, das Hohe Haus verzeiht mir meine Leidenschaft – ich hätte Ihnen die Ihre auch gerne verziehen.“ Ein Zitat, das auch für Hildebrandt gelten könnte. Oder für Sittler. Immerhin ist der Schauspieler selbst seit Jahren politisch engagiert, war einer der Wortführer des Protests gegen Stuttgart 21 und nutzt jetzt die Gelegenheit, um den ein oder anderen Gedanken Hildebrandts weiterzuspinnen. So bezieht er die AfD, deren Erstarken der Satiriker nicht mehr miterleben musste, als politischen Arm der rechten Szene in die Nummer um den Altnazi Franz-Josef Stussinger mit ein oder kommentiert die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, macht dies aber so geschickt, dass es nicht weiter irritiert.

Der Großteil des Programms hat allerdings derartige Eingriffe überhaupt nicht nötig. Auch sechs Jahre nach seinem Ableben sind die Texte von Dieter Hildebrandt noch so aktuell wie eh und je, und zwar nicht nur bei der unendlichen Geschichte um den Berliner Flughafen oder bei der Debatte um Pünktlichkeit bei der Deutschen Bahn, sondern auch bei essentiellen Fragen nach Moral und Anstand. „Würde ist nicht nur ein Konjunktiv“, sagt Sittler einmal in Hildebrandts Namen – ein Satz, den sich eigentlich sämtliche Politiker im In- und Ausland übers Bett hängen müssten, bevor sie wieder über Flüchtlingszahlen diskutieren. Und da ist er wieder, der Kabarettist mit seinem wachen Blick, der den Schauspieler überlagert und vorübergehend mit ihm eins wird, um posthum seine „Letzte Zugabe“ zu geben. Das Publikum ist dementsprechend begeistert und feiert beide, den Lebenden und den Toten, völlig zu Recht mit frenetischem Applaus.

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