Das Dorfleben ist die Seele der vietnamesischen Kultur. Die idealisierte Idylle zwischen dem lebensspendenden Fluss und dem auf- und abnehmenden Mond ist so tief in der Bevölkerung des südostasiatischen Staates verwurzelt, dass selbst das quirlige, pulsierende Leben einer Metropole wie Hanoi nur oberflächliche Veränderungen in den Menschen bewirkt. Der viel beschworene Kontrast zwischen Stadt und Land? Ist eigentlich nicht vorhanden. Und so hat sich Regisseur Knut Gminder bei der Produktion der GOP-Varietéshow „Sông Trăng“ ganz bewusst dagegen entschieden, das ursprüngliche Konzept zu verfolgen und den Artisten der vietnamesischen Zirkus-Förderation eine Dualität aufzuerlegen, die sie gar nicht zu spüren scheinen. Stattdessen hat er sie einfach machen lassen und auf diese Weise einen faszinierenden Abend voller Ästhetik und Poesie geschaffen, der ganz anders ist als die üblichen GOP-Programme. Und gerade deshalb so bezaubernd.
„Sông Trăng“ überzeugt zunächst einmal durch gestalterischen Purismus: Die Bühne ist nackt, kahl, ohne Aufbauten, ohne Dekor, ohne Technik. All das gab es während der Proben in Hanoi nicht, warum also sollte es in Deutschland anders sein? Und dennoch gelingt es dem GOP-Team und den 13 Artisten auch in Bonn, fantastische Bilder zu schaffen, indem sie mit Licht arbeiten, mit Tüchern und natürlich mit Bambus in allen möglichen Formen. Einzelne Stäbe werden zu Brücken, Brücken zu Wänden, Wände zu Häusern, ein permanenter Wandel und ein Ausdruck immensen Erfindungsreichtums. Über, auf, unter und in diesen Konstruktionen agiert das vietnamesische Ensemble, balancierend, springend und durch die Lüfte schwebend. Dabei wird keiner allein gelassen, abgesehen von einem großstädtischen Clown im Selfie-Wahn, der von der Gruppe immer dann abgestraft wird, wenn er sich zu sehr in Szene setzen will. Was zählt, ist nicht das Individuum, sondern das Kollektiv. Muss es auch, schließlich ist die Truppe aufeinander angewiesen. Sämtliche Sicherungen laufen über sie: Selbst wenn einer im Luftring oder an den Strapaten bis zur Decke und zumindest sinnbildlich darüber hinaus möchte, gelingt ihm (oder ihr) das nur mit Hilfe der anderen, die das jeweilige Gerät samt Akrobat nach oben ziehen und in der Luft halten.
Die einzelnen Nummern sprühen denn auch vor Kraft und Dynamik, ohne allerdings hektisch zu wirken. Ganz im Gegenteil: Alles muss fließen, ist ein Geben und Nehmen, ebenso sehr Tanz wie Akrobatik auf höchstem Niveau. Mal steht eine Frau auf den Schultern eines Mannes, um mit ihm ein bisschen Seilspringen zu üben, dann wieder hüpfen die Herren wie Frösche über die Bühne, demonstrieren ein Stockkampf-Kata oder klettern wie Affen über den Bambus. Dazwischen kreisen Kegelhüte in mandalaartigen Mustern, ohne dass es kitschig wirkt – die Balance bleibt stets gewahrt. Dabei hilft auch, dass die Truppe auf große Effekthascherei verzichtet und nicht nach neuen Rekorden und besonders spektakulären Nummern strebt, sondern bei sich bleibt, in der Gemeinschaft und im Fluss. Der urbane Trubel hat darin keinen Platz. Außer in der Musik. Auch die ist nämlich komplett vietnamesisch gehalten, eine bunte Mischung aus traditionellen Weisen und modernen Rhythmen, aus Pop-Schnulzen und Hip-Hop-Stücken. Das alles passt so gut zusammen, dass ausgerechnet „Moon River“ zum Fremdkörper wird, ein aufgepropftes Stück westlicher Kultur samt dazugehörigem Indochina-Klischee. Andererseits gehört auch das irgendwie zu Vietnam. Und wer sich „Sông Trăng“ angeschaut hat, weiß wenigstens, dass dieses Land zwischen Mond und Fluss viel mehr zu bieten hat.
Kommentar schreiben