Riverside, Fish & Jethro Tull: Chronik eines offenen Genres

Hauptsache anders: Das war und ist eines der Markenzeichen des Progressive Rock, eines nach allen Seiten offenen Genres, in dem alles möglich ist. Na gut, fast alles. Klassik, Jazz, Elektronika und Folk sind immer wieder integriert und assimiliert worden, um etwas Neues zu schaffen, eine Musik jenseits gängiger Konventionen, durchdacht, komplex und ungeheuer spannend. Nun haben drei Bands auf dem KunstRasen gewissermaßen zu einer Zeitreise eingeladen, auf der die rund 3000 Besucher den Progressive Rock von heute bis hin zu seinen Ursprüngen erleben konnten. Mit dem polnischen Quartett Riverside, das unter Szene-Kennern seit nunmehr 15 Jahren eine feste Größe der gegenwärtigen Szene ist, dem ehemaligen Marillion-Frontmann Fish sowie Jethro Tull samt Teufelsflötist Ian Anderson ist eine illustre Runde nach Bonn gekommen, die musikalisch und zum Teil auch inhaltlich noch einiges zu sagen haben.

Eine große Offenheit darf natürlich nie in Beliebigkeit münden; eine Lektion, die das niederländische Duo Vanderlinde erst noch lernen muss. Kurzfristig sind Arjan van der Linde und Wietze Koning noch als Opener zu dem ohnehin schon gut gefüllten Line-Up hinzugekommen, können aber mit ihrem irgendwo zwischen Indie-Pop und Hardrock changierenden Gemisch nicht punkten, zumal sie überhaupt nicht ins Konzept des Nachmittags passen. Insofern müssen Riverside gewissermaßen bei Null anfangen und das im Rgen stehende Publikum erst einmal aufputschen. Eine Aufgabe, die die Band um Bassist und Sänger Mariusz Duda bravourös meistert, obwohl gerade ihr neuestes Werk „Wasteland“ eher düster gehalten ist. Die Songs erzeugen jedoch eine hypnotische Wirkung, verweben feine Melodien mit wuchtigen Riffs und vertrackten Rhythmuswechseln, ohne dabei zu verkopft zu wirken oder zu bemüht. Die opulenten Stücke, stilistisch irgendwo zwischen Porcupine Tree und Dream Theater, sorgen für Begeisterung und bringen die Menge auch ohne gnadenlos durchhämmerndes Bassgewitter oder radiotaugliche Radiorock-Phrasen auf Touren.

Dennoch dreht das Publikum erst so richtig auf, als Fish die Bühne betritt. Kein Wunder: Der Schotte ist nicht nur für Marillion-Fans eine Ikone, sondern hat sich heimlich still und leise eine kleine, aber treue Fan-Gemeinde erspielt, die der sonoren, mitunter an Phil Collins und dann wieder an Peter Gabriel erinnernden Stimme nur zu gerne lauscht. Der 61-Jährige bedankt sich mit einem fulminanten Konzert, dem letzten als Europäer, wie er wehmütig sagt. Gleich mehrere Lieder verknüpft er mit dem Brexit und gibt ihnen so einen neuen Kontext, darunter das fantastische „Vigil In A Wildernis of Mirrors“, bei dem exzellente Verse mit ausgeklügeltem Rock einhergehen und eindrucksvoll zeigen, was abseits des Mainstreams an großartiger Musik zu finden ist. Die Menge ist dementsprechend euphorisch, obwohl Fish bis auf „Lavender“ keinen Marillion-Hit spielt. Hat er aber auch gar nicht nötig. Sein eigenes Œuvre spricht für sich.

Während Fish mit Marillion den Progressive Rock der 80er Jahre maßgeblich prägte, gehörte Jethro Tull in den 70ern zu den Pionieren des Genres. Spielmanns- und Barock-Melodien trafen auf wuchtige E-Gitarren und das elaborierte Flötenspiel von Ian Anderson. Der ist bis heute ein Virtuose allererster Güte, ein Magier mit seinem Instrument. Beim Gesang muss der 71-Jährige hingegen inzwischen Abstriche machen: Die jahrzehntelang malträtierte Stimme bringt inzwischen nicht viel mehr als ein Krächzen heraus, jeder Ton wirkt wie ein Kampf. Zum Glück für Anderson und die Fans gleichermaßen waren die Stücke von Jethro Tull immer mehr von Instrumental-Passagen geprägt – und die sitzen weiterhin perfekt. Ein Stück nach dem anderen schallt von der Bühne, angefangen bei obskuren Raritäten wie „Dharma For One“ und endend bei Hits wie „Too Old For Rock 'n' Roll, Too Young To Die“ oder „Locomotive Breath“. Ein würdiger Abschluss eines Abends, der zumindest für den ein oder anderen eine Offenbarung gewesen sein könnte. Ja, Rock kann wirklich so komplex sein. So vielseitig. Und so großartig.


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