Hagen Rether: „Die Freiheit ist ein zartes Reh“

Wir sind schon ein seltsames Völkchen, wir Europäer. Nach Jahrhunderten der Auseinandersetzung, nach zwei Weltkriegen und nach etlichen weiteren großen und kleinen Konflikten herrscht erstmals Frieden auf dem Kontinent, können wir entspannt und frei leben – und kaum appellieren ein paar Flüchtlinge an unsere Menschlichkeit, entwickeln wir uns zu Pavianen zurück, fletschen die Zähne und wenden uns Faschisten und Rassisten zu. Da kann Hagen Rether nur mit dem Kopf schütteln. Was soll das? Warum können wir nicht einfach mal die Ruhe bewahren, und unsere christlichen Werte am besten noch dazu? Also jene, die so gerne von den rechtskonservativen Kräften vereinnahmt werden, wenn sie mal wieder die Grenzen schließen wollen, um das christliche Abendland vor den muslimischen Horden zu schützen. Aber Sankt Martin feiern, das muss drin sein. Vom geteilten Mantel predigen und die Laternen danach auf Flüchtlingsheime werfen. Was für eine Heuchelei. Was für eine Enttäuschung.

Für Hagen Rether ist all das nicht neu, ebenso wenig wie für sein Publikum. Seit 15 Jahren regt sich der scharfzüngige Kabarettist in seinem immer wieder aktualisierten Programm „Liebe“ über diese und andere Missstände auf, analysiert, kritisiert, karikiert und polemisiert. So auch im Pantheon, wo er einmal mehr redete und redete und redete, Stunde um Stunde, so wie man es von ihm gewohnt ist. Ja, für Hagen Rether braucht man Durchhaltevermögen. Und Sitzfleisch. Und möglichst kein ADHS. Immerhin schlägt der 49-Jährige gerne große Bögen, kommt von der immer wieder aufploppenden Leitkultur-Debatte als Exoskelett einer innerlich hohlen Gesellschaft zu Donald Trump, spielt Kultur und Sport gegeneinander aus und landet irgendwann bei Paradoxa wie Brennholzverleih. Oder Wirtschaftsethik. „Da kommen wir später noch zu“, verspricht er dann gerne. Stimmt meistens nicht. Dafür gibt es zu viel zu beklagen.

Auf den ersten Blick mag es also scheinen, als wäre Rether ein Pessimist, ein ungehörter Rufer in der Wüste. Doch erstmals gibt es Hoffnung. Zumindest in der Ferne. Erst einmal wird alles noch schlimmer, glaubt Rether, spätestens wenn Angela Merkel abdankt und ihren Thron in Richtung der ihr folgenden Meute geifernder Populisten und planloser Phrasendrescher wirft, die aus Furcht vor den Rechten selber einen Rechtsruck vollzieht. Das ist ungefähr so wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod, sagt Rether. Und damit geht ein Verfall der Werte einher, eine kontinuierliche Verrohung unter dem Deckmantel des freien Wortes. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, heißt es dann. „Ich mache mir nicht Sorgen um die Meinungsfreiheit, sondern um unser Schamgefühl“, sagt Rether dazu.

Diese Bewegung weg von der Moral und hin zum Nationalismus und Rassismus ist in ganz Europa zu sehen, ach was, auf der ganzen Welt, siehe USA. Dort treibt das Gespenst des islamistischen Terrors so viele Menschen in die Hände der Waffenlobby, dass seit 9/11 mehr als 500.000 Tote durch Schusswaffen gezählt worden sind. „Assad hat dafür einen Bürgerkrieg angefangen, die Amerikaner machen das in ihrer Freizeit“, so Rether. Bitter, aber wahr. "Die Freiheit, sie ist ein scheues Reh und derzeit leider viel zu oft auf der Flucht. Doch am Ende, da ist sich der Mann mit dem Pferdeschwanz sicher, wird der Faschismus nicht gewinnen. Er ist einfach nicht wirtschaftlich, kommt nicht gegen die Popkultur an, nicht gegen den aufstrebenden Pluralismus und nicht gegen die Bewegungen einer mutigen Jugend. „Greta Thunberg macht mir Mut“, gesteht Rether. Also weitermachen. Weiter predigen. Weiter aufklären. Und auf das Beste hoffen.

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