„Die Nase“: Ein Zinken auf Abwegen

Eine ausgeprägte Nase hat so seine Tücken: Cyrano de Bergerac wurde nicht zuletzt dank seines Riechorgans als literarische Figur unsterblich, Kleopatra für die ihre bewundert und Nikolai Gogol für seine verspottet. Ob letzterer allerdings so ganz ohne dieses Körperteil glücklich geworden wäre, sei dahingestellt: Immerhin hat der Schriftsteller während seiner Zeit in Sankt Petersburg unter anderem eine groteske Erzählung verfasst, in der die titelgebende Nase des Kollegienassessors Kovalev eines Tages ganz eigene Wege geht, sich abkoppelt von ihrem Menschen und als Staatsrat durch die Stadt spaziert. Ein Akt, der den derart verlassenen und verunstalteten Beamten zutiefst verstört. Nun hat Regisseur Frederik Werth diesen Stoff auf die Werkstattbühne des Theater Bonn gebracht – und ein irritierendes, aber auch durchaus amüsantes Zwei-Personen-Stück geschaffen.

Nach einem Sinn oder einer Bedeutung sollte man in der Bonner Inszenierung nicht suchen. Werth verweigert sich konsequent einer eindeutigen Lesart, deutet zwar mitunter Traumsequenzen an und spielt mit den im Text angelegten Fragen nach dem Nutzen derartiger Grotesken, führt die Zuschauer aber ausdrücklich in keine bestimmte Richtung. Die müssen sich eben auf die absurde Handlung einlassen – oder an ihr verzweifeln, so wie auch Protagonist Kovalev (Timo Kählert), Der stört sich insbesondere an der Willkürlichkeit des Geschehens, an dem spontanen Entschwinden seiner Nase, die eines Morgens einfach da war und an ihrer statt nichts als eine Leerstelle hinterlassen hat. Ein Grund ist nicht erkennbar. Warum Kovalev, und warum seine Nase? Die Antwort: Warum nicht? In dieser Hinsicht nimmt Gogol bereits Kafkas „Verwandlung“ vorweg; seine Erzählung gilt bis heute als das erste surrealistische Prosastück der russischen Literatur. Was zumindest eine Erklärung für das Auftauchen des Stoffes auf dem Spielplan ist.

Kovalev hilft all das natürlich nichts. Verzweifelt versucht er, das ihm eigene Körperteil zurückzuholen, um wieder vorzeigbar und somit gesellschaftlich annehmbar zu sein. Doch das vorwitzige Organ ist ihm immer eine Nasenlänge voraus. Auf den Apparat, dem auch er dient, kann Kovalev sich ohnehin nicht verlassen: Die Polizei will ihm nicht helfen, ebenso wenig wie die Medien, die aus Angst vor Fake-News-Vorwürfen – so zeitgemäß ist der Text dann doch – eine Annonce verweigern. Der junge Mann wird somit nicht nur von seiner Zierde, sondern gleich von allen allein gelassen. Selbst als die Nase schließlich mit falschen Papieren in der Postkutsche nach Riga entdeckt und festgenommen wird, bleibt Kovalev hilflos, da diese sich hartnäckig weigert, ihren angestammten Platz einzunehmen, und auch ein Arzt eine Operation verwirft. Diesen sowie all die anderen Nebenfiguren (einschließlich der Nase) spielt übrigens Wilhelm Eilers mit der ihm eigenen Wandlungsfähigkeit in schneidiger Uniform und verfügt damit über mehr Haltung als Kählerts Kovalov, der mit kurzer Hose auch mal über den Boden robbt.

Irgendwann ist dann die Nase doch wieder da, wo sie sein sollte. Einfach so. Ohne Grund. Auch hier fehlt eine Erklärung, eine Auflösung, ein Fazit. Doch vielleicht ist es gerade diese kryptische Leerstelle, die Gogol intendiert hat, als er eine Geschichte schrieb, die weder Nutzen noch Moral beinhaltet und damit die spießigen Forderungen der etablierten Literatur jener Zeit ad absurdum führte. Für das Publikum in der Werkstatt des Theater Bonn bedeutet dies, dass es in den gerade einmal 45 Minuten der Inszenierung selbst einen Sinn hinter dem Geschehen suchen muss. Oder von vornherein darauf verzichtet. Was wahrscheinlich der beste Ansatz ist.

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