„Psycho“: Selbsttäuschung einer verlorenen Seele

Eigentlich ist Norman Bates ein bemitleidenswertes Wesen. Ein schüchterner, impotenter Mann ohne Hoffnung auf mehr, ganz allein in einem Motel lebend, abgeschnitten von der Welt, ohne Verbindung zu irgendjemanden. Abgesehen von seiner boshaften Mutter. Und die ist schließlich tot. Kein Wunder, dass Bates ein wenig sonderlich ist. Gut, er ist auch ein eiskalter Killer, der junge Frauen mit einem Schlachtermesser unter der Dusche zerstückelt – aber letztlich ist er mindestens ebenso sehr Opfer wie Täter. Zumindest erhalten all jene diesen Eindruck, die bei der „Psycho“-Lesung von Matthias Brandt und Jens Thomas in der Bonner Oper zugegen waren. Das kongeniale Duo, das in der Vergangenheit unter anderem schon mit einer Variante der „Vögel“ zu Gast war und vor inzwischen fünf Jahren auch dieses Programm schon einmal präsentiert hat, führt sein Publikum am Karnevalssonntag ohne Umwege in den Kopf von Alfred Hitchcocks berühmter Figur, lässt die Stimmen lebendig werden und verleiht Bates eine Komplexität, die er selbst im Film niemals erreicht.

Der Wahnsinn, der in Bates wütet, hat an diesem Abend zwei Väter. Brandt, ohnehin einer der besten deutschen Charakterschauspieler der Gegenwart, mimt die gespaltene Seele mit enormem Einfühlungsvermögen und herrlich differenzierter Dynamik, während Tastenmagier Jens Thomas als personifiziertes Es am Flügel und am Mikrofon wütet wie eine schizophrene Banshee, jaulend, brabbelnd, kreischend, schnatternd, kratzend, klopfend, flirrend und fantasierend. Seine Ton-Collage ist der Nährboden für Brandts Stimme, angereichert mit völlig dekonstruierten AC/DC-Nummern (darunter „Hells Bells“ und „TNT“), die in dieser freien Form fremd wirken und doch zugleich irgendwie vertraut und die vor allem stets auf den Punkt bringen, was gerade in diesem monströs-berührenden Kammerspiel passiert. Das basiert auf der Romanvorlage von Robert Bloch, ist aber ganz bewusst auf Bates zugeschnitten worden. Alles andere ist gestrichen: Der Grund für das Auftauchen der hübschen Mary in dem abgelegenen Motel, die Untersuchungen von Privatdetektiv Arbogast, die Auflösung durch Marys Freund Sam und ihre Schwester Lila, all das spielt keine Rolle. Was zählt, ist Norman Bates. Er mit seiner multiplen Persönlichkeit, in der sich ein kleines Kind, ein lebensunfähiger Mann und die herrschsüchtige, diabolisch gackernde Mutter vereinen. Ihnen allen verleiht Brandt eine Stimme, spricht aufbrausend und zurückhaltend, weinerlich und manipulierend, bösartig und unschuldig, bis jeder, egal ob er die Handlung kennt oder nicht, unweigerlich einen Funken Mitleid mit dieser verlorenen Seele haben muss.

Knapp 90 Minuten hält der Sog in die Abgründe einer zersplitterten Psyche an, 90 Minuten, in denen von atemloser Stille bis zu wildem Urschrei alle Register gezogen werden. Das Kopfkino läuft auf Hochtouren; die Spannung lässt sich mit den Händen greifen. Die Eskapaden von Jens Thomas, der einen Effekt an den nächsten reiht und dabei mitunter selbst wie ein Wahnsinniger wirkt, drängen zunehmend in den Hintergrund. Je mehr sich das Publikum auf die Darbietung einlässt, desto normaler wirken sie, nicht zuletzt dank der grandiosen Leistung von Matthias Brandt. Intensiver kann man diesen Text wahrscheinlich nicht erlebbar machen. Das Publikum bedankte sich denn auch mit stehenden Ovationen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0