Das Idyll ist zerbrochen. Der Wald im Hintergrund der Bühne des Theater Koblenz ist verdorrt und verbrannt, die bezaubernde Naturwelt der romantischen Oper zum Zerrbild ihrer selbst geworden, ebenso wie der Zirkus im Zentrum, in dem längst das Groteske das Wunderbare verdrängt hat. Es ist die perfekte Manege für „The Black Rider“, dieser verdrehten Version der „Freischütz“-Geschichte. Das düster-makabre Werk von Star-Regisseur Robert Wilson, Beat-Genereation-Legende William S. Burroughs und dem exzentrischen Musiker Tom Waits, dem Poeten der Verfremdung, fordert einen derartigen Ansatz geradezu. Immerhin sind sämtliche Figuren des Musicals gebrochen, haben zumindest seelisch Schaden genommen – und die schrägen Kompositionen, die sich ebenso aus dem Vaudeville speisen wie aus Rock, Blues und den einst Kurt Weill perfektionierten süßen Melodien zu unangenehmen Wahrheiten, greifen diesen Aspekt permanent auf. Normal ist hier nichts. Und so hat Regisseurin Anja Nicklich allerlei seltsame Gestalten ins Rampenlicht geholt, die ohne weiteres aus der vierten Staffel der „American Horror Story“ stammen könnten. „Send in the Freaks“ als Motto des Abends. Applaus, Applaus.
Tatsächlich erweist sich dieser Kunstgriff als Segen für die Produktion. Die Kostüme von Antonia Mautner Markhof sowie die Arbeit der Maskenbildnerinnen sind herausragend, ein ebenso atemberaubender wie erschreckender Blickfang, ohne aber fehl am Platze zu wirken. Selbst die Ballett-Tänzer, die mitunter bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden sind und mit besonders extremen Bewegungen über die Bühne taumeln, bereichern die Szenerie, statt sie zu überfrachten. In dieser Freakshow kann sich nun die Handlung um den Schreiber Wilhelm (Christof Maria Kaiser) und die Förstertochter Käthchen (Julia Steingaß) entfalten. Letztere darf nur einen versierten Jäger ehelichen, ein Probeschießen soll die Eignung des Bräutigams sicherstellen. Doch Wilhelm ist ein absolut unfähiger Schütze. Da bietet ihm der diabolische Stelzfuß Zauberkugeln an, die jedes Ziel treffen. Mit deren Hilfe erlegt Wilhelm alles, was ihm vor die Flinte kommt – doch schon vor dem Probeschießen geht ihm die Munition aus. In seiner Verzweiflung gießt er selbst die magischen Kugeln, die ihm der plötzlich erscheinende Stelzfuß auch lässt. Alle bis auf eine. Die nämlich lenkt der Teufel selbst ins Ziel. Und trifft damit Käthchen.
Die Titelrolle übernimmt mit Adrian Becker ein versierter Musical-Darsteller, der schon häufiger in Koblenz zu sehen war. Sein Stelzfuß ist keine Horrorgestalt, sondern hat vielmehr etwas von
einem eitlen Geck, gepaart mit der bisexuellen Exaltiertheit eines Frank N. Furter. Stimmlich fügt er sich hervorragend ein, mit sonorem Organ und gelegentlich rauen Tönen. Von zentraler
Bedeutung für die Inszenierung ist allerdings auch die Figur des Erbförsters Kuno, dem Vorfahren von Bertram und Käthchen, dem schon damals nachgesagt wurde, die Hilfe des Teufels angenommen zu
haben. Ihn spiegelt Regisseurin Nicklich mit Autor Burroughs, der 1951 seine Frau erschoss, als er die berühmte Apfelszene aus „Wilhelm Tell“ nachstellen wollte – in Personalunion sitzt daher
Darsteller Michael Hamlett in einem hängenden Käfig, bleibt aber trotz seiner exponierten Stellung ein wenig blass. Weitaus stärker agiert Reinhard Riecke als Herzog, Zirkusdirektor und Assistent
des Teufels, der vor allem schauspielerisch seine Monologe brillant ausgestaltet. Derweil begeistern Julia Steingaß und Christof Maria Kaiser mit gesanglicher Brillanz, ebenso wie Cynthia Grose
als Käthchens Mutter Anne und Jona Mues als ihr Gatte Bertram. Überragt werden sie jedoch von Marcel Hoffmann, der in einer Tripel-Rolle als grobschlächtiger Jäger Robert, Wilderer und Georg
Schmid sämtliche Register zieht, die grenzdebil grinsende Clowns-Visage seiner Rolle mit herrlich ausdifferenzierter Mimik versieht und dazu sowohl mit kräftigem Bariton als auch in glasklarem
Falsett überzeugt.
Natürlich ist „The Black Rider“ nicht nach jedermanns Geschmack: Die mitunter bewusst schräge Musik der souverän spielenden Band (Leitung: Karsten Huschke) und die teils obszöne Gestik der
Charaktere dürften den ein oder anderen konservativen Besucher vielleicht abschrecken, und auch die wilde Mischung aus deutschen und englischen Texten erschwert das Verständnis für die Handlung.
Andererseits muss man sich einfach nur auf die Bild- und Tonsprache einlassen, um einen verrückten, aber letztlich fantastischen Abend zu erleben. Bei der Premiere spendete das Publikum auf jeden
Fall enthusiastischen Beifall für ein großartiges Ensemble.
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