Sebastian Lehmann: Anrufe des Chaos

Egal, wie alt man auch ist, für die eigenen Eltern bleibt man doch immer ihr Kind. Und zwar eines, das ohne die guten Ratschläge von Mama und Papa kaum überlebensfähig ist. „Fahr vorsichtig“, „zieh dir was Warmes an“ oder auch „ich würde da ja Schinken reinschneiden“ – so etwas muss man auch erst mal gesagt bekommen, selbst wenn man bereits 37 ist und sich als Autor in Berlin durchschlägt. Vielleicht gerade deshalb. Auf jeden Fall kann sich Sebastian Lehmann nicht über mangelnde parentale Aufmerksamkeit beschweren. Im Pantheon liest der erfolgreiche Poetry Slammer und Schriftsteller daher aus den gesammelten Telefonaten mit seinen Eltern vor, an denen er verzweifelt und die doch so ungeheuer unterhaltsam sind, dass das Publikum aus dem Lachen kaum herauskommt.

Dabei kann Lehmann seine langjährige Freundschaft mit Marc-Uwe Kling nicht verhehlen, mit dem er 2005 die „Lesedüne“ gründete. Zu ähnlich sind Stil und Witz, zu absurd die Situationen, in die vor allem seine Eltern immer wieder geraten. Und ebenso wie Kling nutzt auch Lehmann ganz alltägliche Gespräche, um politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu kommentieren. Flüchtlingskrise und Brexit, die Angst vor der permanenten Überwachung und die Ungerechtigkeit der Vergaberichtlinien für Elterngeld werden thematisiert, und mitunter hört man im Hintergrund das anarchistische Känguru aus den berühmten Chroniken Klings zustimmend lachen. „Das Leben ist wie ein Tweet von Donald Trump: kurz, absurd und voller Fehler“ – dieser Satz könnte auch ohne weiteres von dem sprechenden Beuteltier stammen. Und auch der herrliche Dialog mit einigen eloquenten und nur äußerlich Klischees bedienenden Bauarbeitern versprüht einen vergleichbaren Humor. Allerdings ist Lehmann ein wenig leiser, zurückhaltender, gesitteter, auch weil seine Eltern bei all ihren verrückten Aktionen (inklusive ihres natürlich chaotischen Berlin-Besuchs) stets eine gewisse Ratio einbeziehen und somit die Fallhöhe nicht ganz so groß ist wie bei Kling. Auch wenn sie völlig ausreicht.

Angereichert wird Sebastian Lehmanns aktuelles Programm „Elternzeit“ durch das Vortragen populärer Liedtexte von Scooter oder Katy Perry, die der 37-Jährige durch Google Translate gejagt hat und nun ganz im Sinne Christine Prayons als große Poesie verkauft, sowie kurze Teenager-Geschichten über allerlei Jugendkulturen, die allesamt zu den Höhepunkten des Abends zählen. Herrlich, wenn Siebtklässler als Grufties nicht etwa bis Mitternacht, sondern nur bis 20.30 Uhr draußen auf dem Friedhof spielen dürfen, wenn sie als Skater die Spraydosen mangels finanzieller Mittel durch Handmalfarben ersetzen oder wenn sie sich als Gangsta-Rapper versuchen, dabei aber Texte von Reinhard Mey verwenden. Dank dieser literarisch-satirischen Perlen – und dank Sebastian Lehmanns Eltern – wird der Abend im Pantheon so zu einem Lesefest der besonderen Art, bei dem der Autor völlig zu Recht ausgiebig gefeiert wird.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0