Ben Becker: Die Leiden des Judas

Das Bekenntnis ist eindeutig: „Ich habe ihn ermordet“, gesteht Judas mit Blick auf Jesus, der durch ihn ergriffen und ans Kreuz geschlagen wurde. „Jeden einzelnen Tropfen Blut, der aus seinem reinen Körper floss, habe ich vergossen.“ Er, der von so vielen verhasste Jünger Christi, dem Ausnahme-Schauspieler Ben Becker in einer atemberaubenden Darbietung Stimme, Körper und Seele leiht und der sich so erstmals öffentlich rechtfertigen kann. Ja, Judas ist sich bewusst, was er getan hat. Und es war kein Verrat. Sondern ein Opfer. Eines, das notwendig war, das geplant war, auch wenn es letztlich zwei Menschen zerstörte. Jesus, der so für die Sünden aller starb – und Judas, der ihm dies glaubte und ihm dieses Schicksal ermöglichte. In einem eindringlichen Monolog, die sonore Stimme schwanger mit tief empfundener Qual, lässt Becker den Apostel in der Bonner Oper zu Wort kommen und seine Sicht der Dinge in einer ebenso emotionalen wie argumentatorisch brillanten Apologie darlegen, die jeder einmal vernommen haben sollte.

Becker bereitet den Weg für Judas dabei geschickt vor. In der an eine Messe erinnernden Szenerie wahrt er zunächst noch eine gewisse Distanz zu seiner Rolle, nutzt einen Auszug aus dem „Judas“-Roman von Amos Oz als Einstieg und öffnet sich in dem klagenden Rückblick auf den vermeintlichen Verrat immer mehr der Figur. Doch erst mit Walter Jens' „Verteidigungsrede des Judas von Ischariot “ ist die Verschmelzung vollendet. Und das Leiden auf der Bühne kann beginnen. Denn leicht hat es sich Judas nicht gemacht. „Ich habe ihn geliebt“, schreit er. Doch die Auslieferung war ein Befehl des Herrn. Ohne Judas kein Verrat, ohne Verrat keine Kreuzigung, ohne Kreuzigung keine Erlösung der Sünden, keine Kirche, kein Glaube an einen liebenden und vergebenden Gott. „Ich musste um Christi Willen zum Schlächter und Selbstmörder werden“, klagt Judas. „Um eurer Rettung willen gab ich mich dafür her, den Beweis anzutreten, dass wir der Erlösung bedürfen.“

Gedankt hat es ihm keiner. Ganz im Gegenteil. Judas wurde zum Erzfeind, der für seine Taten verdammt wurde, im tiefsten Kreis der Hölle für alle Zeiten von mächtigen Kiefern zermalmt zu werden; er wurde zum Zerrbild des diebischen und verräterischen Juden, von Luther in einigen antisemitischen Pamphleten ebenso instrumentalisiert wie von den Nazis, die den Hass auf die eine, letztlich notwendige Tat in einen Genozid kanalisierten. Judas ist sich der Geschichte nur allzu bewusst – und er, der sich als Gläubiger stilisiert hat, beginnt nun doch zu zweifeln. Was, wenn er einfach „Nein“ gesagt hätte? „Was, wenn mein Nein zu einem millionenfachen Ja geführt hätte“, fragt sich Judas. Was, wenn Jesus nicht gekreuzigt worden wäre? „Kein Pogrom, kein Lager, kein Gas.“ Und keine Folter für seine Seele. „Das habe ich nicht verdient“, sagt Judas. Er, der doch nur ein Mensch war und kein Fleisch gewordener Gott. Er, der einfach nicht mehr kann, nicht angesichts von Männern und Frauen, die erneut Rechtsradikale als Volksvertreter wählen; angesichts von Menschen, die immer noch von verschiedenen Rassen sprechen; und angesichts von jenen, die den Hass sähen und die Menschlichkeit verraten. Nach 2000 Jahren scheint die Botschaft Jesu noch immer nicht angekommen zu sein. Und Judas bricht zusammen. „Nein!“, ruft er durch die Zeiten zurück. „Nein!“ Vergebens.

100 Minuten mimt Becker den Judas mit jeder Faser seines Körpers, manchmal in den Pathos abgleitend, doch zu keinem Zeitpunkt das Publikum loslassend. Das ist letztlich ebenso am Ende wie der 52-Jährige, der sich mit tränenerstickter Stimme bedankt. „Dass ihr euch alle so einen Text antut, bedeutet mir sehr viel“, sagt er, während der Saal ihn stehend würdigt – und hoffentlich etwas aus dem Abend mitnimmt. Und sei es nur die Haltung, nicht alles abzunicken. „Zweifeln, Nachdenken, das kann ich ja wohl verlangen“, hat Becker zuvor den Judas sagen lassen. Wäre zumindest mal ein Anfang.

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