Brad Mehldau: Musik ohne Namen

Ein Wasserfall aus Tönen prasselt auf die restlos ausverkaufte Bonner Oper, ein beständiger Strom aus Melodien und Klängen, perlend, sprudelnd, fließend, vom Verstand kaum in Gänze erfassbar und doch irgendwie an- und aufregend. Keine Frage, Brad Mehldau ist eine Klasse für sich. Der 46-Jährige gilt als einer der besten Jazz-Pianisten der Welt, als Ausnahmetalent mit einem Hang zu hochkomplexen Narrationen, der immer wieder ein Dutzend potenzielle Wege öffnet, jeden einzelnen farbenfroh ausschmückt und schließlich doch den dreizehnten wählt. Nicht umsonst hat die Elbphilharmonie ihn auserkoren, das neue Hamburger Konzerthaus dem Jazz zu weihen, nicht umsonst liegen ihm weltweit die Künstler zu Füßen – und nicht umsonst hat das Jazzfest Bonn an diesem besonderen Abend mit der Tradition der Doppelkonzerte gebrochen und Mehldau einfach alle Zeit der Welt gewährt. Was dieser dann auch ausnutzt.

Im Gegensatz zu dem noch immer aktuellen Album „Blues and Ballads“ mit seinen virtuosen Cover-Versionen stehen in Bonn Eigenkompositionen des US-Amerikaners im Mittelpunkt. Brandneue Stücke, mitunter so frisch, dass sie noch nicht einmal einen Titel tragen. Aber wie sollen auch knapp 15 Minuten zusammengefasst werden, in denen Mehldau zusammen mit Drummer Jeff Ballard und Bassist Larry Grenadier in die glitzernd-dunklen Tiefen des Jazz eintaucht und eine unerwartete Wendung nach der anderen nimmt? In denen frische Phrasen wahlweise aus dem Hirn des Meisters oder aus den Bühnenbrettern entspringen, auf die Mehldau während seines Spiels andächtig blickt? In denen jede zart angedeutete Vorhersagbarkeit ein ums andere Mal zersplittert und sich in Wohlgefallen auflöst?

Einfach macht es Mehldau seinem Publikum allerdings nicht. Seine Kunstwerke sind zweifelsfrei emotional, vor allem aber überaus komplex und erfordern ein hohes Maß an Konzentration. Keine Musik zum Zurücklehnen, sondern eine zum Zuhören. Ganz bewusst und voll fokussiert. Die atemberaubende Leichtigkeit, die Mehldau und seine Trio-Kollegen trotzdem an den Tag legen, sind angesichts dessen nur umso bewundernswerter. Ballard zaubert permanent groovende Rhythmen, beständig unter Strom stehend und doch absolut präzise, während Grenadier mühelos zwischen dezenter Hintergrundbegleitung und prominenter Melodieführung zu wechseln versteht (vor allem bei „Strange Gift“, bei dem Bass und Klavier häufig parallel spielen). Und dann natürlich Mehldau, dessen Finger über die Tasten flirren und flitzen, mitunter unterschiedlichen Linien folgen, kontrapunktisch und autark agieren und doch allzeit einer konkreten Vision folgen. Während sich andere Musiker in einen Rausch spielen, bleibt Mehldau nüchtern – und bringt doch gerade dadurch sein Publikum zur Ekstase.

Die Liebe zu Deutschland und seiner Kultur, die Mehldau bekanntermaßen hegt, schwingt in diesem Klangkosmos ebenfalls prominent mit. Die Begrüßung auf Deutsch ist dabei nur das offensichtlichste Beispiel; auch diverse klassische Zitate und Anleihen sprechen für sich. Selbst in der lyrisch verträumten Ballade „Maury's Grey Wig“ lassen sich ein paar romantische Anklänge finden. Und so langsam wird auch Mehldau handzahm. Ruhig. Zugänglich. Während Cole Porters „It's Alright With Me“ als erste Zugabe noch einmal alle Register zieht und mit einem turbulenten Intro Vollgas gibt, wird Paul Simons „Still Crazy After All These Years“ zu einem tiefenentspannten Gemeinschaftserlebnis und Nick Drakes „River Man“ zu einem gefühlvollen Abschied von einem restlos begeisterten Publikum, das Mehldau mit stehenden Ovationen feiert.

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