Domian: „Man kann mit jedem reden“

Kommunisten und Nazis, Festischliebhaber und willige Sklaven, Täter und Opfer: Jürgen Domian hatte sie alle in der Leitung. Er, der für viele Menschen wahlweise Ratgeber, Beichtvater oder Mutmacher war, ein Humanist mit viel Gefühl und noch mehr Offenheit, der ebenso als Stimme des Gewissens wie als teilnahmsvoller Zuhörer fungieren konnte. Im Dezember hat der beliebte Moderator nach 22 Jahren seinen nächtlichen Telefontalk beim WDR Fernsehen und bei 1Live für aus gesundheitlichen Gründen eingestellt; nun ist Domian gewissermaßen auf Abschiedstour. Diesmal in einer anderen Rolle, als Erzähler, der sich an all die Absurditäten und die Tragödien erinnert, an denen er teilhaben durfte. Seine Fans lassen sich das natürlich nicht entgehen. Gleich an zwei Abenden füllt er etwa den großen Saal des Pantheons – und hat dabei dem Publikum die Möglichkeit gegeben, noch ein letztes Mal mit ihm in Kontakt zu treten.

Domian, so liest man oft, hat in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut. Kein Thema war für ihn tabu, bei ihm hatte jeder ein Recht, sich zu Wort zu melden. Selbst wenn dies weh tat. Eine Frau, die aus dem Internet Kot bestellte und diesen aß? Für Domian ein hartes Telefonat. Und doch nur die Spitze des Eisbergs. „Für mich war die Grenze immer dann erreicht, wenn ich mit Sterbenden gesprochen habe oder mit Menschen, die gerade jemanden verloren haben“, sagt er. Wie jene Mutter, deren Sohn entführt, sexuell missbraucht und dann ermordet wurde und die angesichts der Belagerung durch die Medien alle abblockte, nur um dann eines Nachts Domian anzurufen. Oder der 23-jährige Simon, der an Krebs im Endstadium litt und selbst dem erfahrenen Talker, der doch schon so viele Geschichten am Rande des Erträglichen gehört hatte, die Stimme raubte. Menschen, die einfach nur reden wollten. Reden mit jemandem, der nicht zum inneren Kreis gehörte, der nicht Familie war und doch Vertrauen ausstrahlte. Domian war für sie der Strohhalm, der Rettung aus dem auferzwungenen Schweigen versprach. Er vermittelte Nähe, ohne nah zu sein, nahm jeden ernst und wies niemanden ab, der einmal bei ihm in der Sendung landete. 20.000 Anrufversuche gab es pro Nacht, erzählt Domian im Pantheon; etwa 1000 Personen erreichten einen der Journalisten, die im Hintergrund der Sendung arbeiteten, fünf bis sechs wurden schließlich ins Studio durchgestellt.

Bis heute ist Domian vor allem für die Extreme in seiner Sendung bekannt. Für den Mann, der sich aus Hackfleisch in der Badewanne eine Frau formte, um sich sexuell zu befriedigen; für die Frau, die von ihrem Freund gemästet wurde und die ihn doch nicht verlassen konnte; für schwere Schicksalsschläge und abstruse Phantasien, letztlich für alles, was sonst in der Gesellschaft unter den Teppich gekehrt wird und nur im Schatten der Nacht ans Licht gebracht werden kann. Auch im Pantheon greift Domian diese Fälle auf, ständig auf seine beiden großen Themen verweisend: Sex und Tod. Begierde und Verzweiflung. Vor allem über das „Recht auf ein selbstbewusstes, würdiges Sterben“ kann Domian ausgiebig reden und wird darauf auch von Fans angesprochen. Die ergreifen nur allzu gern die Gelegenheit, in die Diskussion einzusteigen, nachdem Domian und Moderator Michael Dietz eine knappe Stunde lang die Geschichte der Talkshow abgehandelt haben. Wie bei solchen Formaten üblich ist die thematische Bandbreite enorm, Fragen zu seiner Haltung zur gespaltenen Gesellschaft, seinem Menschenbild und seinen Träumen soll Domian beantworten. Und immer unterschwellig: Wie kommt man mit all dem Gehörten klar, das doch so oft unter die Haut geht? „Mir ist wichtig, dass ich im Jetzt lebe“, sagt der 59-Jährige. Das habe ich aus dem Zen gelernt. Im Moment seid ihr für mich besonders wichtig. Dieser Moment, hier in Bonn mit euch, das ist für mich Zen.“

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