Tortoise: Soundtrack zum Wahlabend

In gewisser Weise nehmen die Klänge in der Harmonie die Ereignisse der Nacht vorweg. Wummernd sind sie, aufpeitschend, vibrierend, mitunter aggressiv, dann wieder melancholisch – und vor allem voller Überraschungen. Klassische Strukturen greifen hier nicht, die Musik scheint ebenso wie die Welt viel zu sehr aus den Fugen zu sein. Doch während es der Chicagoer Band Tortoise seit inzwischen fast 30 Jahren gelingt, mit ihrer Mischung aus Elektronika, Jazz und Post-Punk den herkömmlichen Rock zu überwinden und mit intelligenten Ansätzen immer wieder neu zu erfinden, folgen die Zerbrochenen Staaten von Amerika in ihrer Ablehnung des Etablierten lieber einem Demagogen, der im Wahlkampf ein ums andere Mal wie ein bockiges Kind auf seine Trommel gehauen und lautstark um Aufmerksamkeit geschrien hat. Und auch wenn Tortoise, vom Wahlausgang noch nichts ahnend, das Thema Trump nur mit einem Satz anschneiden, liefern sie mit ihrem Konzert in Bonn letztlich den passenden Soundtrack zu diesem Polit-Drama.

Immerhin, auf die Trommel hauen können John Herndon, Dan Bitney und John McEntire ebenfalls. Mit Nachdruck. Fast schon zu viel Nachdruck, so als wollten die drei Multiinstrumentalisten, die abwechselnd und mitunter auch gleichzeitig an den Drums Platz nehmen, jeden Funken von Tiefgang vergessen machen und die komplexen, kreativen Passagen zubetonieren. Das Publikum ignorieren sie im Gegensatz zu der Vorband White Wine, deren Frontmann Joe Haege seine aggressive Schwermut gerne mal unter die Leute trägt, nahezu vollständig, machen dicht und lassen von jenseits der unsichtbaren Grenze zwischen Fans und Band lediglich die Früchte ihrer Arbeit erstrahlen. Andererseits agieren sie wenigstens mit technischer Brillanz, während sie entlang der von Gründungsmitglied und Bassist Douglas McCombs gelegten Grundlinien zahllose verschwurbelte Polyrhythmen zu einer nahezu undurchdringlichen Klangmauer aufschichten. Dazwischen scheinen dann die Geistesblitze hindurch: Die fein verzahnten Melodien, die mal von der Gitarre Jeff Parkers, mal von Keyboards und in den besten Momenten vom Vibraphon zwischen die Schlagmuster geschoben werden und die sich auch von Verzerrungen und Noise-Einsätzen nicht zum Schweigen bringen lassen. Könnte fast eine Allegorie sein. Es gibt noch Schönheit zwischen all den Misstönen und Distortionen, selbst wenn diese ab und an die Überhand haben. Ein Hoffnungsschimmer, der zwar nach 90 Minuten im Äther verschwindet, aber mit etwas Glück nachhallt.

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