„Chimaira“: Hilflos im Nebel

Ein Akteur, ein Zuschauer: Intensiver kann eine Theatererfahrung kaum sein. Irritierender auch nicht. Denn immer wieder steht die Frage im Raum, inwieweit man als Rezipient selbst aktiv werden soll und darf, ob man selbst Teil des Spiels werden kann oder ob man sich lieber zurückhält. Bei der Performance „Chimaira“, die jetzt an zwei Tagen im Theater im Ballsaal zu sehen war, dominierte diese Ungewissheit die ganze Zeit über – und wurde bis zum Schluss nicht aufgelöst. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Projekten dieser Art nahm einen hier keiner an die Hand, gab es keine Blaupause, sondern nur eine Leerfläche. Und wer die nicht füllte? Blieb hilflos zurück.

Eine Leerfläche war es auch, die als Bühne fungierte, ein angestrahltes weißes Quadrat in einem von Nebelschwaden durchzogenen dunklen Raum. Eine kleine Fläche des Seins, umgeben von Nichts, auf der sich der Zuschauer ausbreiten konnte, sollte und sogar musste. Denn man selbst generierte das Stück, schuf durch die eigenen Handlungen während der Initiationsphase die Grundlage für das Folgende. Dabei passierte zunächst einmal nichts, gab es keine fremden Impulse – nur ab und zu flatterte ein Zettel von der Decke. Und so begann man, sich selbst in Frage zu stellen, die eigene Rolle im Stück zu suchen. Bis irgendwann Brigitta Schirdewahn auftrat und man endlich nicht mehr alleine war. Oder doch? Denn auch im weiteren Verlauf kam es kaum zu Interaktionen. Was machte diese weißhaarige, immer noch grazile Tänzerin da? Kopierte sie die Bewegungen, die man selbst zuvor gemacht hatte, war sie bloßes Spiegelbild oder doch mehr? War diese Bühnenfigur nur durch die Aktionen des Zuschauers am Leben? Oft schien es so. Immer wieder blieb sie stehen, drehte sich ihrem unfreiwilligen Partner zu, imitierte für einen Bruchteil seine Gesten. Und ging doch mitunter darüber hinaus. Irgendwann erzählte sie eine Fabel, dann eine zweite. Warum? Wer war sie? Eine Schimäre, geschaffen aus Ideen des Regisseurs und Choreographs Sebastian Blasius und der eigenen (oft beschränkten) Phantasie? Hatte das, was man zuvor tat, überhaupt Auswirkungen? Oder war dieser Schöpfungsprozess nur eine Illusion, hervorgerufen durch den verzweifelten Versuch, in dieser Performance irgendeinen Sinn zu finden?

Nach etwa 20 Minuten ging Schirdewahn, nach einem kleinen Abschiedstänzchen, der einzigen echten direkten Interaktion von „Chimaira“. Oder hätte es da mehr geben können? Fragen über Fragen, auf die der Zuschauer keine Antwort erhielt. Klar war nur, dass man mehr hätte machen können. Hinterher ist man immer schlauer. Die direkte, emotionale Erfahrung, die ein derartiges Format allerdings ermöglicht, hielt sich gerade durch diese Offenheit in Grenzen. Ohne Anleitung, ohne Regie erweisen sich die meisten Menschen eben doch als hilflos. Ein eher unbefriedigendes und zugleich aufwühlendes Gefühl. Obwohl, vielleicht ging es in „Chimaira“ ja auch nur darum. Ob das als Erkenntnisgewinn reichte? Das zu entscheiden, konnte jeder Zuschauer nur für sich entscheiden.

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