„Von der Unschuld des Atmens“: Leben ist mehr als Arbeit

Einfach nur auf der Wiese liegen, den Sonnenaufgang beobachten – und Atmen. Einfach mal ganz bewusst Atmen. Ohne sich fragen zu müssen, ob und wenn ja was man heute noch leisten wird. Ein schöner Traum, und einer, der gar nicht so einfach zu realisieren ist, wie Schriftsteller Henri Paul (Nicolas Mittler) feststellt. Der von Angststörungen geplagte Misanthrop hat sich auf einen Campingplatz zurückgezogen, um in Ruhe an seinem neuen Buch zu schreiben und frei von gesellschaftlichen Zwängen Durchschnaufen zu können. Doch das Leben holt ihn ein: Vier junge Leute auf der Suche nach sich selbst gründen in seiner Nachbarschaft eine Künstlerkommune und locken den Zyniker langsam aber sicher aus seinem Schneckenhaus. Bis das Arbeitsamt auftaucht – und einen Leistungsnachweis fordert.

Wie messen wir Arbeit? Ausschließlich durch Produktivität? Was ist mit Kunst? Und ist Arbeit wirklich alles? Diesen Fragen widmet sich die studentische Theatergruppe S.U.B.-Kultur mit der Uraufführung von Chris Noldes „Von der Unschuld des Atmens“, dem zweiten Teil einer Trilogie über den Wert der Arbeit. Regisseur Marcus Brien hat den Text Kuppelsaal der Thalia-Buchhandlung als temporeiche, mitunter ins Groteske abgleitende Komödie inszeniert, die kontinuierlich mit Überzeichnungen und tiefsinnigen Analysen jongliert. Letztere wirken mitunter zwar etwas zu gewollt, zu konstruiert (ebenso wie die ein oder andere völlig überdrehte Szene, vor allem wenn Tamer Afifi als vermeintlicher Ideen-Verkäufer Leander von Schlawin und die extrem dominante Anna Kathrin Kumpf als gnadenlose Arbeitsamts-Ermittlerin Diana auftauchen), erfüllen aber zumindest ihren Zweck und regen zum Nachdenken an. Dennoch ist das Stück dann am stärksten, wenn Witz und Botschaft ganz von selbst entstehen, nicht mit der Brechstange, sondern mit natürlichem Charme transportiert und parallel gedacht werden. Vor allem Johannes Neubert gelingt dies hervorragend: Sein Janus ist gefangen zwischen dem Freiheitsstreben seiner ewig strahlenden Hippie-Freundin Vesta (süß: Eva Runkel) und dem scheinbar so konservativen Wunsch nach einem geregelten oder zumindest geregelterem Leben, was Neubert immer wieder mit feinen Akzenten herauszuarbeiten versteht. Doch auch die exzellente Muna Zubedi als ehrgeizige Künstlerin Auri und Tom Mechandjijski, der in seiner allerersten Theaterproduktion als verloren wirkender und sich nach einer Auszeit sehnender Frank eine bravouröse Leistung abliefert, haben ihre Momente.

Im Mittelpunkt steht jedoch weiterhin der sich im Abseits befindliche Henri. Er, der sich selbst im Weg steht und zunächst am Leben leidet, statt es zu genießen, wandelt sich nicht zuletzt dank der Zuneigung und Unbeschwertheit der jungen Lou (Lena Sophie Weyers als verführerisch-lebenslustige Muse) zu einem gelösten Menschen, der endlich wieder frei atmen kann. Ohne Druck, ohne Erwartungen. Und ohne Angst vor dem Arbeitsamt, auch wenn die Krankschreibung als Lösung mehr Eskapismus denn Problembewältigung darstellt. Natürlich ist dieses Ende eine Utopie, kann dieser Aussteigertraum samt dem Entspannen auf der grünen Wiese nicht ewig währen. Aber das Leben besteht nun einmal aus mehr als nur aus Arbeit. Etwa aus Selbstfindung. Oder eben Atmen. Auch das will schließlich gelernt sein. 

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