„Nijinski“: Getanzte Biographie

Es ist eine meisterhaft ausgeführte Verbeugung vor einem Ideal: Mit ihrer neuesten, von Marco Goecke geschaffenen grandiosen Choreographie hat die Stuttgarter Kompanie Gauthier Dance dem legendären Tänzer Vaclav Nijinski ein Denkmal gesetzt, ohne sich dabei von der Lichtgestalt des russischen Balletts blenden zu lassen, sondern ihr vielmehr in eine Reise zu den Abgründen der menschlichen Seele zu folgen. In Bonn fand nun der erste Gastspiel-Abend statt – und trotz des sich unmittelbar anschließenden Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und Italien war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Zu recht. Denn Goeckes 80-minütiges und zu Beginn von Eric Gauthier hinlänglich erläutertes Triptychon, das nach einem Prolog über den Ballets-Russes-Impressario Sergei Djagilew (zugleich Mentor und Geliebter Nijinskis) und die Geburtsstunde der Ballettmoderne die Kindheit, Jugend, Höhepunkte und Leiden des polnischen Ausnahmetänzers umfasst, erwies sich fantastische Darbietung, in der die 16 Tänzer des Ensembles immer wieder über sich hinauswuchsen.

Zugegeben, Goecke machte es den Zuschauern nicht gerade leicht. Sein kinetisch-repetitiver Stil, in dem große Bögen kontinuierlich auf hackende, gar vibrierende Gliedmaßen treffen, Handkanten Löcher in die Luft stanzen und Arme zu Windmühlenflügeln werden, bricht ebenso mit Erwartungen wie damals Nijinskis „Faun“-Choreopgraphie. Abrupt stoppende, im Profil ausgeführte Bewegungen werden durch den Stuttgarter potenziert und in ihrer Hektik ins Extrem getrieben – doch die auf diese Weise erzielte Wirkung steht außer Frage. Nijinski wird so zum Getriebenen, zu einem Zerrissenen zwischen Klassik und Moderne, der in fiebriger Erregtheit von einem Erfolg zum nächsten jagt und nie zur Ruhe kommt. Und wenn er nicht zittert, so springt er. Hoch und höher. Dafür war der Pole zu Beginn des 20. Jahrhunderts berühmt, hat Generationen von Tänzern mit seiner Sprungkraft und seiner Leichtigkeit inspiriert. In Bonn übernahm Rosario Guerra diesen Part, kraftvoll, energetisch, eindringlich. Und sinnlich. Die Beziehung zu Djagilew stellten Goecke und das Gauthier-Dance-Ensemble ebenso dar wie das sexuelle Erwachen, das ersterer im „Faun“ sieht. Doch die Choreographie ging tiefer. Viel tiefer. In beinahe freudscher Interpretation trafen stille Verzweiflung auf unbändige Leidenschaft, dionysisches Begehren und narzisstische Verklärung, um so Nijinski möglichst in seiner Ganzheit in Szene zu setzen.

Dabei lenkte nichts von der Ästhetik tanzender Körper ab. Die Bühne blieb kahl und leer, auch das Licht und die Kostüme blieben so schlicht wie möglich. Hier ein paar Engelsflügel für das Göttliche, da ein Dirigierstock und ein Pelzkragen für Djagilew, mehr gab es nicht. Ein Purismus, der auf den ersten Blick im Kontrast zu dem permanent zuckenden Muskeldauerfeuer der Tänzer zu stehen schien und diesen doch hervorragend ergänzte. Derweil folgte das Publikum gebannt der Entwicklung Nijinskis, sah ihn nicht nur als Faun, sondern auch als Petruschka mit weißem Kragen und als „Spectre de la Rose“ – und schließlich als an Schizophrenie leidender zurückgezogener Mann, der Kreise auf den Boden malt, Kreise um Kreise. Immerhin, eine Erlösung verweigerte Goecke ihm nicht: Am Ende durfte Nijinski angemessen zurück ins Dunkel treten. Mit einer Verbeugung. Dafür dankte das Publikum mit tosendem Applaus. 

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