„Werther“: Eine Version für die Generation X

Leidenschaft, die Leiden schafft: Damit kennt der junge Werther sich aus. Von einer Liebe erfüllt, die keine Zukunft hat, versinkt Goethes berühmte Figur in tiefe Melancholie und sieht letztlich nur im Suizid eine Rettung vor dem ihn peinigenden Seelenschmerz. Nun hat das Theater Bonn den Briefroman in den Kammerspielen auf die Bühne gebracht und ihm zugleich eine Frischzellenkur verpasst, die die Verlorenheit und den emotionalen Extremismus dieses unsteten Geistes geschickt in die Moderne überträgt.

In der so genannten Generation X, jener perspektivlosen und desillusionierten Jugend der 90er Jahre, fand Regisseurin Mirja Biel schon vor sechs Jahren in Göttingen eine Entsprechung des Wertherschen Zeitgeists – und in ihrem unfreiwilligen Kronprinz Kurt Cobain eine neue Leitfigur. Zugegeben, diese Parallele wirkt fast schon zu offensichtlich, zu plakativ, hat doch schon kurz nach dem Freitod des Nirvana-Frontmanns der Sender MTV Cobain als den Werther seiner Zeit stilisiert. Doch der Bezug funktioniert, wie die Godesberger Premiere am vergangenen Donnerstag eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Nicht zuletzt dank einer klugen Textarbeit (unter Einbeziehung von Cobains Tagebüchern) und exzellenter Darsteller.

Biel verzichtet in ihrer Inszenierung auf eine allzu detaillierte Gesellschaftskritik und legt den Fokus auf den persönlichen Absturz ihres cobainisierten Werthers. Diesen versieht Benjamin Berger, der schon in Göttingen mitwirkte, mit Leben und Charisma: In permanenter romantischer Überspannung brennt er für alles, was er anfasst, sich verzehrend nach einem Sinn in seinem Leben, nach etwas, das seine innere Leere zu füllen vermag. Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt offenbart er sich in einer Art Videotagebuch oder schwankt über den Bühnenstreifen vor dem konsequent geschlossenen Eisernen Vorhang – die Welt, so scheint es, ist ihm zu klein. Doch sie genügt, zumindest so lange Werther seine Lotte (Johanna Falckner) hat. Die ist beileibe kein Unschuldslamm, keine fürsorgliche Ersatzmutter für acht Geschwister wie bei Goethe, sondern ein Partyluder, das sich ihrer Weiblichkeit bewusst ist und durchaus mit der Anziehung spielt, die sie auf Werther ausübt. Biel hat es sich offensichtlich nicht verkneifen können, hier Bezüge zu Cobains Ehefrau Courtney Love herzustellen, was leider an ein oder zwei Stellen darin resultiert, dass Lotte in ihrer Metamorphose vom behüteten Mädchen im Tütü hin zur Punk- beziehungsweise Grunge-Braut etwas zu überzeichnet wirkt. Andererseits bringt sie dadurch den nötigen Schwung mit, um Werther aus seiner Lethargie zu reißen – und was Falckner mit nur einem Blick und ihrem hervorragenden Gespür für Timing auszusagen vermag, entschädigt ohnehin für vieles.

Die Beziehung des Chaos-Pärchens, das nicht nur bei Klopstock und Büchner, sondern auch bei den Sex Pistols auf einer Wellenlänge liegt, wird irgendwann durch das von Techno-Klängen begleitete Eintreffen von Albert (Robert Höller in Topform) aufgekündigt: Ein Großkotz und Besserwisser, der schon zuvor via Live-Projektion auf den Metall-Vorhang ein kleines Referat über die Neurotransmitter der „Liebesverblödung“ gehalten hat, seinen Konkurrenten Werther in einem herrlich absurden Schaukampf KO schlägt und sich in einer leider dann doch nicht so ganz konzisen Stammtischrede als Neoliberaler entpuppt. Hier bricht Biel mit der von ihr etablierten Form, wechselt vom Persönlichen zum Allgemeinen, versucht es mit kritischen Tönen und einer satirischen Überhöhung des Bürgerlichen – und droht damit zu scheitern, würde sie nicht genau an der richtigen Stelle die Kurve kriegen. Klappt aber. Ohnehin ist dies der Produktion zu Gute zu halten: So überdreht einige Szenen auch sind, kippt das Stück doch zu keinem Zeitpunkt ins Lächerliche. Stattdessen bleibt die existenzielle Angst des verlorenen, verzweifelten, liebeshungrigen Werther/Cobain omnipräsent.

Daher verträgt der „Werther“ die Modernisierung auch, die Biel ihm in Bad Godesberg hat zuteil werden lassen. Sein Protagonist verweigert sich konsequent jener Anpassung an das angeblich gutbürgerliche Leben, die Lotte mit ihrer Hochzeit mit Albert so mühelos vollzieht, wenn auch weniger aufgrund der gesellschaftlichen als vielmehr aufgrund der seelischen Situation. Die Ästhetisierung der Melancholie, die Ende des 18. Jahrhunderts begann, ist schon längst wieder zurückgekehrt. „Ich hoffe, dass ich nie so glückselig werde, dass ich langweile“, hat Kurt Cobain einmal gesagt. Tut er nicht. Ebenso wenig wie Werther.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0