„Kassandra“: Im Kopf der Prophetin

Kassandra, die Unverstandene. Die Tochter des trojanischen Königs Priamos, von Apollon mit der Gabe der Weissagung gesegnet und zugleich mit dem Fluch belegt, dass niemand ihren Worten Glauben schenkt, ist eine tragische Figur, die kontinuierlich zwischen Verzweiflung und Wahnsinn wandelt. Nun haben sich Regisseurin und Choreographin Michaela Fünfhausen, Schauspieler und Tänzer Jannis Arampatzis sowie Komponist Uwe Storch dem Mythos angenommen – und wagen sich in einer intensiven Inszenierung in den Kopf des Orakels.

Im Inneren Kassandras bricht dabei alles zusammen. Das anfänglich von Arampatzis komplettierte Klötzchen-Mosaik, das die Mitte des Bühnenraums einnimmt, verliert zunehmend seine Form, dekonstruiert durch den immer wieder von Anfällen geplagten 52-Jährigen, der in fast schon autistisch wirkender Manier entweder die Namen jener in den Raum schreit, die die Prophetin missbrauchen und verraten (maßgeblich der Gott Apollon und Agamemnon, der der Kassandra nach dem Fall Trojas als Sklavin nimmt) oder mit altgriechischen Passagen aus der Orestie des Aischylos für Verwirrung sorgt. Nur ab und an kommt die deutsche Übersetzung durch, gepaart mit Auszügen aus Christa Wolfs Kassandra-Erzählung und aus dem Werk des amerikanischen Inhumanisten Robinson Jeffers. Klarer wird dadurch allerdings selten etwas. Die eigentliche Aussage müssen sich die Zuschauer selbst erschließen, die Sprachlosigkeit ist schlichtweg zu groß. „Vor den Bildern sterben die Wörter“, zitiert Arampatzis Christa Wolf – doch jene Bilder, die im Theater im Ballsaal nicht zuletzt dank einer brillanten Lichttechnik geschaffen werden, sagen mehr als tausend Worte. Die Verheerung, die Kassandra in ihren Visionen kommen sieht, all die zukünftigen und für sie unabwendbaren Kriege, spiegelt sich in dem schwarz-weißen Trümmerfeld des zerstörten Mosaiks, aus dem bei allem Bemühen keine neue Ordnung mehr entstehen kann. Arampatzis setzt dies eindrucksvoll ins Szene – nur von der laut Programmheft intendierten Emanzipation Kassandras ist nichts zu sehen. Denn die Prophetin bleibt bis zum Ende Opfer ihrer Gabe und ihres Fluchs, ist auch in der Klarheit ihrer Totenklage noch von ihnen fremdbestimmt. Mehr geben weder die Sprachfragmente noch die Performance her. Müssen sie aber auch nicht. Sehenswert ist „Kassandra“ so oder so.

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