Immer wieder weiter, immer wieder neu: Das beinahe schon exzessive Streben nach Veränderung, entweder als radikaler Bruch mit der Vergangenheit oder als Modifizierung und Modernisierung von Altbekanntem, gehört zu den Grundpfeilern der Musik. Beim Jazzfest waren nun zwei Künstler zu Gast, die ihren jeweils eigenen Weg abseits der ausgetretenen Pfade gefunden haben und selbstbewusst voran schreiten: Trompeter-Legende Enrico Rava, der alte Avantgardist, und Pianistin Julia Kadel, die junge Unbekümmerte.
Im Kammermusiksaal des Beethovenhauses haben die beiden nun mit ihren Trios ein Doppelkonzert gespielt, bei dem Kadel, die seit ihrem Debüt beim renommierten Label Blue Note Records als Shooting
Star der deutschen Jazz-Szene gehandelt wird, für ihre völlig von Klischees befreite Musik bejubelt wird – und bei dem Rava zusammen mit seinem langjährigen Kompagnon Gianluca Petrella zeigt,
dass die Verbindung von lyrischem Jazz und wilden Klang-Experimenten durchaus möglich ist. Wenn man eben vom Pfad abkommt.
So einem will auch Julia Kadel nicht folgen. Lieber durchs hohe Gras laufen, losgelöst, frei von Erwartungen, vom Publikum mit Energie und Inspiration versorgt. „Wir sind von Ihnen allen
beeinflusst“, bedankt sie sich – denn festen Schemata kann die 28-Jährige ohnehin nur wenig abgewinnen. Viele ihrer Stücke entstehen aus dem Moment heraus, geboren aus einem Schlagzeug-Rhythmus
Steffen Roths etwa, der experimentierfreudig eine Grundlage schafft, auf die Kadel dann filigrane, vertrackte und zugleich organisch gewachsene Läufe setzt, während der oft stoisch agierende
Karl-Erik Enkelmann dafür sorgt, dass seine beiden Kollegen sich nicht verlaufen. Ein fantastisches und, wie Jazzfest-Leiter Peter Materna bewundernd feststellte, „reifes“ Spiel. Und eben eines,
das auf Retro-Jazz ebenso verzichtet wie auf Anbiederei, auf rockige Hymnen oder bemüht gekünstelte Phrasen. Das alles hat die sympathische Pianistin nicht nötig.
Aus ganz anderen Gründen, aber nicht weniger nachdrücklich lehnt Enrico Rava das Spiel für den Mainstream ab. Erwartungen? Nicht mit ihm. Der 75-Jährige ist einer der anerkanntesten italienischen
Jazz-Musiker weltweit, einer der ganz Großen seines Fachs. Im Kammermusiksaal geht er noch weiter als Kadel, stürmt nicht durchs Gras, sondern lieber gleich durchs Gestrüpp, zeigt sich mal
extrovertiert-avantgardistisch, dann wieder in Zusammenarbeit mit seinem Zögling, dem Pianisten Giovanni Guidi, lyrisch-poetisch, dabei immer klar im Ansatz. Ihm gegenüber Posaunist Petrella, der
junge Wilde, der gerne mal wie eine ganze Bläser-Sektion klingt, nur um sich kurz darauf in abstruse Geräuschsorgien zu ergießen, indem er lustvoll in sein Instrument pustet und stöhnt, keucht
und ächzt. Rava lässt ihn machen. Denn bei all dieser Raserei bleibt das Ziel doch immer fest im Blick. Ab und zu klingen sogar die Melodielinien der Jazzstandards an, die verborgen unter einem
Berg von Improvisationen als Basis dienen. Nur kurz, nur so lange, um das Publikum bei der Stange zu halten, bereit für eine neue Runde durch die Wildnis des Jazz.
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