„Winterreise“: Hohelied der Lebensmüdigkeit

Straßenmädchen und -jungen im Gothic-Look, in ihrer Lebensmüdigkeit Gegenentwürfe zu Eliza Doolittle und Oliver Twist, jeder von Ihnen selbst in der Gruppe einsam, verloren, auf einer seelischen Einbahnstraße in die Dunkelheit fahrend: Das Musiktheater-Projekt „Fremd bin ich eingezogen“, in dem sich gut 60 Jugendliche unter der Regie von Jürgen R. Weber und der musikalischen Leitung von Ekaterina Klewitz der „Winterreise“ von Franz Schubert angenommen haben, hat bei der Premiere am vergangenen Freitag in der Oper Bonn Eindruck hinterlassen.

Die Gratwanderung zwischen Musical und Kunstlied-Vortrag gelingt mit Bravour und bringt frischen Wind in diesen bedeutendsten Liederzyklus der Romantik. Nur der konstruierte Aktualitätsbezug, den das Ensemble mit gelegentlichen Einblendungen von Chat-Passagen und entsprechenden Dialogen in Szene setzt, bleibt zu unspezifisch, um den existenziellen Schmerz des heranwachsenden Homo Digitalis abzubilden. So weit wagt sich die moderne Inszenierung dann leider doch nicht vor. Obwohl sie es durchaus hätte leisten können.

Die Befürchtung mancher Traditionalisten, das Projekt der Bonner Oper würde dem großen Werk Schuberts nicht gerecht werden, kann nach der Premiere ohne Zweifel ad acta gelegt werden: In die Lieder selbst, die durch Video-Installationen angekündigt werden, haben Weber und Klewitz nicht eingegriffen, haben sie lediglich zwischen dem grandiosen Tenor Christian Georg und dem Chor aufgeteilt, der auch in choreographierten Passagen sauber und volltönend singt, kläfft, krächzt und – bei der nahenden Kutsche in „Die Post“ – klatschend klappert. Durch die szenische Darbietung kommt so bereits eine erfreuliche Dynamik ins Geschehen, die insbesondere Georg als Wanderer mit seinem lyrischen, vielschichtigen Gesang eindrucksvoll zu verstärken weiß. So wirkt der Zyklus nicht steif, nicht unnötig gekünstelt oder distanziert, sondern eindringlich emotional. Dazu tragen auch die vier Instrumentalisten bei, die auf den ersten Blick recht ungewöhnlich erscheinen: An einem Pianisten führt natürlich kaum ein Weg vorbei (Adam Szmidt übernimmt diese Aufgabe mit Lockerheit und Eleganz), Cello (Johanna Zur), Harfe (Helene Schütz) und Saxofon (Tobias Rüger) kommen jedoch normalerweise bei der „Winterreise“ nicht zum Einsatz, sorgen jedoch in diesem Fall für eine berührende, dichte Atmosphäre. Vor allem Rüger spielt mit seinem wehmütigen Instrument eine nicht zu unterschätzende Rolle, dient sich ab und zu als verständiger Dialogpartner und als Tröster an und ist doch letztlich nur der Ersatz für den Leiermann, der am Ende des etwa 90-minütigen Konzerts den Großteil des schwarz gewandeten Trauerchores samt Tenor Christian Georg von der Bühne ins Dunkel führt.

Weber und Klewitz haben mit ihrer Interpretation der „Winterreise“ Erstaunliches geschaffen – zumindest in musikalischer Hinsicht. Dass die auch in der Ankündigung versprochene Erfahrungsebene junger Menschen aus der heutigen Zeit dabei etwas zu kurz kommt, die wenigen Dialoge letztlich keine Entwicklung verzeichnen und somit in der Luft hängen bleiben, ist zwar schade, lässt sich aber dank der insgesamt gelungenen Inszenierung verschmerzen. Es wäre das Sahnehäubchen gewesen, die endgültige Übertragung vom 19. ins 21. Jahrhundert. So bleibt die „Winterreise“ ein Grenzgänger-Zyklus, gefangen zwischen zwei Welten. Hat auch was.

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