„Herz der Finsternis“: Gier essen Seele auf

„Das Grauen! Das Grauen!“ Ja, sicher. Aber auch „Der Hunger! Der Hunger!“ Beide Ausrufe passen zu Joseph Conrads Roman „Heart of Darkness“, zu dieser eindringlichen Beschreibung des Kolonialismus im Zentrum des schwarzen Kontinents, wo ein gewaltiger Moloch Zehntausende Sklaven und Tagelöhner zermalmt, um an die Schätze des Kongos zu gelangen, an Diamanten, Coltan, Zinn, Zink, knochiges Elfenbein. Und immer wieder der Ruf nach mehr. Mehr! MEHR!!! Dieser Gier hat das Theater Bonn nun in der Halle Beuel auf eindrucksvolle Weise ein Gesicht gegeben: Jan-Christoph Gockels bildgewaltige Reise in das „Herz der Finsternis“ offenbart gnadenlos die Hybris der Ausbeutung durch die Europäer unter dem Deckmäntelchen des prometheischen Lichtbringer-Gedankens, gar dessen Umkehrung durch historische Gestalten wie den belgischen König Leopold II., den deutschen Söldner namens Kongo-Müller – und natürlich durch den enigmatisch-diabolischen Schatten des Herrn Kurtz.

Die Aufgabe, die sich Gockel und sein Dramaturg David Schliesing gestellt haben, ist beträchtlich. Doch wie schon in der vergangenen Spielzeit bei „Metropolis“ setzt das Team in Beuel Maßstäbe. Ihre Inszenierung berührt, schockiert und amüsiert, bietet Witz, ohne irgendetwas zu verlachen, und Aufklärung, ohne dabei allzu sehr den moralischen Zeigefinger zu heben. Es ist ein Stück, das weitgehend in der Balance ist, zwar gerne mal ebenso schlingernd wie das verrostete Dampfboot, mit dem sowohl Conrads Erzähler Marlow als auch der Autor selbst den Kongo-Fluss hinaufgefahren sind und das Bühnenbildnerin Julia Kurzweg kurzerhand nachgebaut hat, aber immerhin nicht kenternd. Für das zuletzt stark kritisierte Bonner Schauspiel ist „Herz der Finsternis“ schon alleine deswegen ein Segen. Gut, es gibt durchaus Aspekte, auf die man hätte verzichten können, einige Momente, die doch arg konstruiert oder schlichtweg zu grell wirkten – andererseits ergaben selbst diese Passagen letztlich im Rahmen der gewählten Lesart Sinn, hatten Substanz, waren mehr als nur klamaukiges Beiwerk. Auch das ist eine Kunst.

Den Endlos-Monolog aus Conrads Erzählung verteilt Gockel geschickt auf alle fünf Schauspieler, vor allem Hajo Tuschy, Benjamin Grüter und Alois Reinhardt geben Marlow Substanz, während Laura Sondermann vor allem für die emotionalen Momente zuständig ist, für die Wut und den Zorn ebenso wie für das Begehren. Komi Togbonou repräsentiert derweil den schwarzen Kontinent in all seinen Facetten: Er ist der Diener, der bei der Kongo-Konferenz 1885 den Kolonialmächten im wahrsten Sinne des Wortes den aufteilbaren Kuchen Afrika auf dem Silbertablett serviert, er ist der dämonische Heizer, der unter Deck den Dampfer immer tiefer ins Landesinnere treiben muss, er ist die Quelle aller Geräusche, die den Dschungel ausmachen (sowohl darstellerisch als auch musikalisch eine herausragende Leistung). Und er ist – in einer herrlich persiflierenden Umkehrung mit weißer Gesichtsbemalung geschmückt – derjenige, der die fast nackten Wilden (Tuschy, Grüter, Reinhardt) „erzieht“, indem er ihnen Gewehre in die Hände drückt. Das Kommando: Tötet alles. Auf dem Schiff in Schieflage flackern dann Videos mit Jagdszenen, auch Auszüge einer Dokumentation über Kongo-Müller sind zu sehen. Verbrechen gegen die Natur und die Menschlichkeit im Namen des Fortschritts. Von wegen: Das Licht, das Europa bringt, es ist pechschwarz. Und scheint auf einen Kontinent aus Knochen.

Weiter geht es auf dem Schiff, immer weiter. Mal ziehen Nebelschwaden über dem Plastikplanen-Meer, dann wieder prasselt der Regen hernieder. Was für eine meisterhafte Atmosphäre hier geschaffen wird! Licht (Helmut Bolik ), Ton (Jacob Suske), Bühne sind von allererster Güte, nur manche Sprech-Passagen gehen im Effektgewitter unter. Aber diese Bilder! Da stört es noch nicht einmal, dass das Ensemble sogar die Langeweile zur Kunstform erhebt und die Monotonie der Flussfahrt exzessiv auskostet. Auch Stille muss man ertragen können. Zumal ausgerechnet hier Gockel ganz dezent „Apocalypse Now“ zitiert, jene berühmteste und sehr freie Adaption von „Heart of Darkness“, auf die sich der Regisseur ansonsten ganz bewusst nicht bezieht. Er hat ohnehin schon genug zu erzählen auf diesem Kahn, der am Ende völlig in Schräglage gerät. Die Europäer verlassen das sinkende Schiff – und nur Komi Togbonou bleibt auf dem Oberdeck zurück. Der Kurs: Richtung Mittelmeer. Es ist die Flucht vor der wissentlich gesäten Finsternis, die sich noch immer wie ein Krebsgeschwür ausbreitet. Und so langsam auch an die europäischen Gestade schwappt. Die Finsternis, sie kommt nach Hause. Der Hunger auch. Das sollte uns zu denken geben.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0